
In der Strafsache gegen Daniela Klette haben wir heute die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Verden gehört. Unserer Mandantin werden damit im Wesentlichen Straftaten, die im Zusammenhang mit Raubüberfällen in den Jahren 1999 bis 2016 stehen, zur Last gelegt.
Es wird hier von der Anklagebehörde der Anschein zu erzeugen versucht, dass es sich um ein gänzlich unpolitisches Verfahren handelt, in dem es allein um die Ahndung gewöhnlicher Kriminalität geht und welches frei und unabhängig ist von einem politischen Kontext.
Bereits die äußeren Umstände dieses ersten Verhandlungstages, der enorme Sicherheitsaufwand, der hier betrieben wird, das ungewöhnliche öffentliche Interesse an dem Verfahren, sprechen eine andere Sprache und verdeutlichen, dass es sich hier mitnichten um ein ganz normales Strafverfahren handelt. Alle äußeren Bedingungen dieses Prozesses zeigen bereits das Bild eines sog. Terrorismusverfahrens.
Das Spektakuläre des Verfahrens ist der Tatsache geschuldet, dass es sich bei Frau Klette um ein ehemaliges Mitglied der Rote Armee Fraktion handeln soll. Hiermit verbunden sind auch noch im Jahre 2025 Zuschreibungen, Assoziationen und Schlussfolgerungen, die – so werden wir noch zeigen – einen unmittelbaren Einfluss auf das hiesige Verfahren haben.
Nachfolgend soll dargelegt werden, warum nach Auffassung der Verteidigung diese verfahrensfremden politischen Implikationen in einem unlösbaren Zusammenhang mit dem vordergründig „unpolitischen“ Verfahrensstoff stehen, welche Bedeutung das für das hiesige Verfahren hat und welche Schlüsse daraus zu ziehen sind.
Der Verteidigung ist es dabei wichtig, vorab klarzustellen, dass es sich hierbei nicht um eine Problematik handelt, welche allein individuell in den Personen des Gerichts bzw. der Staatsanwaltschaft Verden begründet ist. Es handelt sich vielmehr um eine hiervon unabhängige, grundlegende und strukturelle Problematik, die ein faires Verfahren unmöglich macht. Dies soll in dem folgenden Antrag begründet werden.
Es wird beantragt, das Verfahren ohne Entscheidung zur Sache gem. § 260 Abs. III StPO durch Urteil einzustellen sowie den Haftbefehl gegen Frau Klette aufzuheben.
Begründung:
Es liegt ein unabwendbares Verfahrenshindernis vor.
Die Angeklagte Frau Klette ist bereits jetzt in ihrem Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 6 EMRK) so gravierend verletzt, dass das unmittelbar im Grundgesetz und in der europäischen Menschenrechtskonvention verankerte Rechtsstaatsprinzip einer Fortsetzung des Strafverfahrens entgegensteht. Das gesamte Verfahren trägt derart schwerwiegende und nicht behebbare Mängel in sich, dass ein fairer, rechtsstaatlicher Prozess verunmöglicht ist.
Es handelt sich vorliegend um ein Verfahren, welches 27 Jahre nach der Auflösungserklärung der RAF und mehr als 30 Jahre nach dem letzten der RAF zugerechneten Anschlag durchdrungen ist von historisch einseitigen Zuschreibungen und Festschreibungen hinsichtlich des bewaffneten Kampfes, die aus den 70er, 80er und frühen 90er Jahren des letzten Jahrhunderts stammen. Die Sichtweise auf diese Geschehnisse aus dem letzten Jahrhundert ist von der offiziellen staatlichen Geschichtsschreibung über die damaligen Geschehnisse bestimmt und heute und insbesondere an diesem Ort, in diesem Verfahren nicht auflösbar. Bereits aus der Anklageschrift selbst sowie aus dem öffentlichen und justiziellen Umgang mit der Angeklagten Frau Klette wird erkennbar, dass es um die Festschreibung einer staatlich perpetuierten „offiziellen“ Sichtweise auf die Jahrzehnte des bewaffneten Kampfes im Rahmen eines nur vordergründig „unpolitischen“ Prozesses geht, bei dem letztlich die Justiz in den Dienst staatlicher Deutungshoheit gestellt wird.
Der Verteidigung ist bewusst, dass eine Einstellung eines Verfahrens wegen eines sich unmittelbar aus dem Grundgesetz ergebenden Verfahrenshindernisses nur in sehr besonderen Ausnahmesituationen in Betracht kommt.
Im Folgenden wird dargelegt, aus welchen Gründen eine solche Ausnahmesituation hier vorliegt und wie bereits aus der Anklageschrift und der Art der Führung des Ermittlungsverfahrens erkennbar wird, dass die Angeklagte einer Sonderbehandlung unterzogen wird und diese Sonderbehandlung unmittelbar mit der Behauptung ihrer früheren RAF-Mitgliedschaft und den damit einhergehenden Schlussfolgerungen zusammenhängt. Und es soll erläutert werden, warum diese Prämissen des Verfahrens zwangsläufig fortwirken müssen und im Verlaufe des Verfahrens nicht beseitigt werden können.
- Verfahrenskonstellation
Gegen die Angeklagte wird neben dem hiesigen Verfahren bei der Bundesanwaltschaft unter dem Az. 2 BJs 72/93-2 ein weiteres Ermittlungsverfahren geführt. Gegen Frau Klette wird hier wegen des Verdachts ermittelt, als Mitglied der RAF insbesondere an insgesamt 3 Anschlägen beteiligt gewesen zu sein.
In diesem gesonderten von der Bundesanwaltschaft geführten Verfahren liegt noch keine Anklage vor. Es ist zu erwarten, dass nach der Absicht der Bundesanwaltschaft eine Anklageerhebung und die Hauptverhandlung erst im Anschluss an das hiesige Verfahren erfolgen soll. Eine parallele Hauptverhandlung in dem weiteren Verfahren, welches mutmaßlich vor dem OLG Frankfurt stattfinden soll, dürfte bereits organisatorisch nicht realisierbar sein.
Das hiesige Verfahren vor dem LG Verden steht in einem sehr engen inhaltlichen und historischen Zusammenhang mit dem weiteren Ermittlungsverfahren.
Die Hypothese ist, dass Frau Klette gemeinsam mit den gesondert verfolgten Burkhard G. und Ernst-Volker S. nach Auflösung der RAF im Jahre 1998 weiter untergetaucht geblieben ist und sich fortan ihren Lebensunterhalt mit der Begehung von Raubüberfällen gesichert hat.
- Einfluss der behaupteten RAF-Mitgliedschaft der Angeklagten auf ihre Behandlung im Prozess und die damit verbundene öffentliche Vorverurteilung
Die äußeren Umstände dieses Verfahrens, das Ausmaß der Sicherheitsmaßnahmen und die mediale Vorverurteilung unserer Mandantin weisen bereits alle Anzeichen eines sogenannten „Terrorismusverfahrens“ auf.
Zwar hat die Kammer gegenüber der Verteidigung in einem das Verfahren vorbereitenden Gespräch am 31. Januar 2025 dargelegt, dass nicht beabsichtigt sei, ein politisches Verfahren zu führen. Gegenstand der Hauptverhandlung seien allein die in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft aufgeführten Delikte, also insbesondere die Vorwürfe der Begehung von Raubdelikten und von räuberischen Erpressungen.
Die Art und Weise, in der dieses Verfahren gegen Frau Klette durchgeführt werden soll, konterkariert jedoch die verbalen Bekundungen der Kammer.
Wir verhandeln nicht etwa, wie es eigentlich üblich wäre, in dem Schwurgerichtssaal des Landgerichts Verden, sondern stattdessen im Hochsicherheitssaal des OLG Celle. Später soll die Verhandlung dann in Verden in einem speziell für dieses Verfahren ausgebauten ehemaligen Pferdestall stattfinden.
Unser Antrag, das Verfahren am Landgericht in Verden stattfinden zu lassen wurde abgelehnt. Es handele sich bei der Wahl des Verhandlungsortes nicht um eine politische Entscheidung oder eine Sonderbehandlung der Angeklagten. Bei der Wahl des Verhandlungsortes habe man das staatliche Interesse an einem reibungslosen Ablauf des Verfahrens und die Interessen der Angeklagten in angemessener Weise abgewogen. Sodann wird die nicht weiter begründete Behauptung aufgestellt, dass der Hauptverhandlungssaal in Celle „weder eine Vorverurteilung noch eine erhöhte Stigmatisierung bzw. Prangerwirkung der Angeklagten“ darstelle.
Ein für Terrorverfahren ausgerichteter Verhandlungssaal soll der Öffentlichkeit nicht vermitteln, dass unsere Mandantin eine hochgefährliche Terroristin ist? Selbstverständlich stellt die Wahl dieses Verhandlungsortes verbunden mit den immensen Sicherheitsmaßnahmen, die hier – und später dann auch an dem Verhandlungsort in Verden – betrieben werden, einen Pranger dar und ist hiermit eine Vorverurteilung und auch die Erwartung einer sehr hohen Strafe verbunden.
Wie heißt es doch in einem Bericht des NDR vom 6. Februar 2025:
„Für den Prozess gegen die mutmaßliche Ex-RAF-Terroristin Daniela Klette wird im Landkreis Verden ein neuer Gerichtssaal gebaut. Er soll im Sommer fertig sein, wie eine Sprecherin des Landgerichts Verden mitteilte. In welchem Gebäude der neue Saal entstehen soll, ist noch unklar. Die bisherigen Räume des Landgerichts sind jedoch zu klein und entsprechen den Angaben zufolge nicht den Sicherheitsanforderungen eines Terror-Prozesses. Bis der neue Gerichtssaal fertig ist, soll das Verfahren gegen Klette am 25. März zunächst im Staatsschutzsaal des Oberlandesgerichts Celle beginnen.“
Für den NDR und sicher auch für den großen Teil der Öffentlichkeit ist der Zusammenhang zwischen dem Ort der Verhandlung und der Art des Prozesses eindeutig: es geht um einen Terrorprozess. Das Landgericht Verden beruft sich bei seiner Entscheidung schließlich auch darauf, dass bei der Bundesanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren wegen des Tatverdachts von sog. „Terrorstraftaten“ bestehe.
Wenn über das hiesige Verfahren berichtet wird, dann geht es bei der Sprachregelung der Presse in den Überschriften nie um die Raubdelikte. Die Schlagzeilen werden bestimmt von dem Begriff der „RAF-Terroristin“.
So heißt es bei t-online am 8.11.2024: „Anklage gegen die Ex-RAF-Terroristin steht“. Und der NDR legt am 11. März 2025 nochmal nach.
Unter der Überschrift:
„Prozess gegen Ex-RAF-Terroristin: Wer ist Daniela Klette“
heißt es:
„Am 25. März beginnt der erste Prozess für Daniela Klette vor dem Oberlandesgericht Celle. Aber wer ist die Frau? Ihr Leben in und nach der RAF zeigt eine Frau mit unterschiedlichen Gesichtern.“
Und der RBB formuliert am 25.02.2025 die Überschrift:
„Frühere RAF-Terroristin Klette will sich zum Prozessauftakt äußern“
Keine Zeitung, kein Medium kommt ohne den Verweis auf die angebliche „RAF-Mitgliedschaft“ unserer Mandantin aus. Nicht die Raubüberfälle sind für die Öffentlichkeit von Interesse, sondern das Leben einer „Terroristin“ im Untergrund.
Und das schlägt sich dann eben auch in allen Details dieses Verfahrens nieder.
So wurde der Verteidigung etwa mitgeteilt, dass die Vorführung unserer Mandantin beim Landgericht Verden unter Verwendung von Hand- und Fußfesseln erfolgen wird – im hiesigen Sitzungssaal wird nur deshalb darauf verzichtet, weil sich unsere Mandantin in dem durch Sicherheitsglas abgetrennten Bereich des Sitzungssaales befinden muss. Auch insoweit ist die Botschaft, welche Gefahr von unserer Mandantin vermeintlich ausgeht, unmissverständlich.
Die Kammer ist offensichtlich der Auffassung, dass es keine Wechselwirkung zwischen den äußeren Umständen, unter denen hier das Verfahren geführt werden soll, und dem Verhandlungsstoff gibt. Dass es ausreiche zu postulieren, es werde kein politisches Verfahren stattfinden, auch wenn der ganze sicherheitspolizeiliche Popanz gleichzeitig eine andere Sprache spricht. Es ist die Sprache und die Symbolik der Vergangenheit. Es ist die Sicherheitsarchitektur, für die beispielhaft und als ewiges Symbol des Sicherheitsstaates der Name Stammheim steht. Genau diese Symbolik wird mit den Umständen, unter denen dieses Verfahren stattfinden soll, von der Öffentlichkeit verstanden und entsprechend aufgegriffen und rezipiert. Es ist der Hauch des Deutschen Herbstes 1977, der nun auch noch im Frühjahr 2025 über diesem Verfahren schwebt.
Wir werden im Übrigen unten noch darlegen, dass entgegen der richterlichen Versicherungen dieses Verfahren auch inhaltlich und nicht nur im Rahmen der vorverurteilenden Sicherheitsmaßnahmen die Züge eines politischen Verfahrens trägt.
Der Hintergrund für die hier wahrnehmbaren Sicherheitsmaßnahmen wird in einem Schreiben des zunächst zuständigen Vorsitzenden vom 11. November 2024 an den Leiter des Zentralen Kriminaldienstes der Polizeiinspektion Verden deutlich. Hier heißt es wie folgt:
„Nur im Rahmen dieser Gefährdungsanalyse ist, wenn auch dies nicht rechtskräftig festgestellt worden ist, anzunehmen, dass die Angeschuldigte Daniela Klette Mitglied der unterdessen aufgelösten Roten Armee Fraktion gewesen ist. Ihr Aufenthaltsort ist den Strafverfolgungsbehörden über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten unbekannt gewesen. Seit Ende Februar 2024 befindet sich die Angeschuldigte Klette in diesem Verfahren in Haft. Außerdem sind gegen die Angeschuldigte Daniela Klette bei der Generalbundesanwaltschaft weitere Ermittlungen wegen terroristischer Straftaten anhängig, bei denen in diesem Verfahren eine Überhaft besteht. Einzelheiten dieses Verfahrens sind der Kammer nicht bekannt. Ausweislich der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Verden soll die Angeschuldigte Daniela Klette die ihr vorgeworfenen Straftaten gemeinsam mit den gesondert Verfolgten Burkhard G. und Ernst-Volker S. begangen haben. Der Aufenthaltsort der gesondert Verfolgten G. und S. ist unbekannt. Auch bei ihnen soll es sich um Mitglieder der unterdessen aufgelösten RAF handeln. Weiter dürfte im Rahmen der Gefährdungsanalyse davon auszugehen sein, dass es für die Angeschuldigte Daniela Klette ein Unterstützungsumfeld gibt. Nähere Einzelheiten sind der Kammer hierzu jedoch nicht bekannt. Aus den genannten Umständen dürfte jedoch im Vergleich mit sonstigen Haftsachen von einer erhöhten Fluchtgefahr auszugehen sein.“
Die Vermutung der früheren RAF-Mitgliedschaft, die Tatsache, dass es hier noch zwei weitere gesuchte Personen gibt, und das Unterstützungsumfeld – in der hetzerischen Sprache des deutschen Herbstes nannte man das mal den Sympathisantensumpf – sind für all diese Sicherheitsmaßnahmen verantwortlich. Es wird suggeriert und der Öffentlichkeit mit den ganzen Sicherheitsmaßnahmen deutlich gemacht, dass dieser Hintergrund auch heute noch – im Jahre 2025 – eine Gefährdungslage bedeute.
Es handelt sich um einen hysterisch anmutenden Zeitsprung in die Vergangenheit. Zwei Mal finden wir die Formulierung der „unterdessen aufgelösten“ RAF. So, als ob es sich um ein erst kürzlich stattgefundenes Geschehen handelt und nicht um eines, welches mittlerweile 27 Jahre zurückliegt. Es werden mit diesen Ausführungen Bilder von spektakulären Gefangenenbefreiungen oder gar Anschlägen hervorgerufen – angeführt von Burkhard G. und Ernst-Volker S.. Es sind Bilder, Phantasien, aus einer lang zurückliegenden Vergangenheit, die hier projiziert werden um damit die massiven Eingriffe in Persönlichkeitsrechte unserer Mandantin zu rechtfertigen. Ganz abgesehen davon, dass es Beispiele für (versuchte) Gefangenenbefreiungen im Zusammenhang mit Gerichtsverhandlungen in der Geschichte der RAF zu keinem Zeitpunkt gegeben hat.
Was es allerdings gab – wenn wir hier schon bei dem OLG Celle verhandeln – ist die Geschichte des sog. „Celler Lochs“. Eine Geschichte, die vermutlich für immer mit dem Ort Celle und dem Land Niedersachsen verbunden sein wird. Eine von der Politik gedeckte Aktion des niedersächsischen Landesamts für Verfassungsschutz aus dem Jahre 1978, bei der ein Loch in die Außenmauer der JVA Celle gesprengt wurde, um den Anschein eines Befreiungsversuches für den damals einsitzenden RAF-Gefangenen Sigurd Debus zu erwecken und mit der versucht werden sollte, einen Spitzel in die RAF einzuschleusen.
Hier aber wird heute immer noch suggeriert, dass die früheren RAF-Strukturen weiter bestünden oder jedenfalls jederzeit reaktiviert werden könnten.
Das Landgericht Verden lässt erkennen, dass es diese Bilder sind, von denen Ihre Sicherheitsmaßnahmen auch heute noch bestimmt sind.
Das Gericht macht sich hier zu eigen, was auch die Staatsanwaltschaft Verden zu vermitteln versucht.
Wir werden später noch darlegen, dass auch bei der Staatsanwaltschaft dieser ganz große Bogen über einen Zeitraum von 50 Jahren geschlagen wird und versucht wird, eine heute noch existierende Verbindung zwischen der früheren RAF und unserer Mandantin herzustellen. An dieser Stelle allein ein erstes, besonders plumpes Beispiel für das entsprechende Bemühen der Staatsanwaltschaft.
In der Anklageschrift heißt es in dem Abschnitt, der sich mit den vermeintlichen Erkenntnissen zur Person unserer Mandantin beschäftigt, wie folgt:
„K. sollte in Köln vernommen werden, er weigerte sich auszusagen. Es wird jedoch als lebensnah angesehen, dass der Zeuge K. Angaben zu den Lebensverhältnissen der Angeschuldigten machen kann. Ausweislich seiner festgestellten Meldeadressen nach seiner Haftentlassung (…) hat er über Jahre in örtlicher Nähe zu der Angeschuldigten Klette, dem gesondert Verfolgten G. und der Wohnung der U. sowie zum Wagenplatz Markgrafendamm gelebt.“
Die „örtliche Nähe“ von Meldeadressen soll „lebensnah“ für die Vermutung ausreichen, dass es einen Kontakt zwischen K. und Frau Klette sowie Burkhard G. gegeben hat. Wobei „örtliche Nähe“ konkret nicht mehr bedeutet, als dass die Adressen sich beide in der Berliner Innenstadt befinden. Was aus dieser absurden Konstruktion der Staatsanwaltschaft Verden deutlich wird, ist allein der Wille zum Spektakel, zum Sensationellen: die RAF 2.0 existiert!
Und natürlich sind das auch die Nachrichten, die öffentlich gern aufgegriffen werden. Der ehemals als seriös geltende „Spiegel“ – von welcher Stelle auch immer mit entsprechenden Informationen versorgt – macht daraus gleich eine Geschichte. Unter der Überschrift:
„Ex-RAF-Terroristin Daniela Klette soll im Untergrund Kontakt zu K. gehabt haben“
wird die staatsanwaltschaftliche sensationsheischende Spekulation gern aufgenommen und unter der Rubrik „Panorama“ veröffentlicht. Dort heißt es dann:
„Ermittler sind davon überzeugt, dass die Ex-RAF-Terroristin Daniela Klette in der Illegalität Kontakt zu einem Kopf der früheren zweiten RAF-Generation hatte. Dabei handelt es sich um K., der seit 2008 wieder in Freiheit ist. (…) In der Anklage gegen Klette schreibt die Staatsanwaltschaft Verden, K. habe in Berlin jahrelang in Klettes Nähe gewohnt. Es sei „lebensnah“ anzunehmen, dass er Angaben zu Klettes jüngsten Lebensverhältnissen machen könne. Die Staatsanwaltschaft nennt drei Adressen von K. unweit der Sebastianstraße in Kreuzberg, wo Klette viele Jahre unter falschem Namen wohnte. Zeitweise lebte K. nur etwa 1,5 Kilometer Fußweg entfernt. Auch Ex-RAF-Mann Burkhard G. lebte auf einem nahen Bauwagenplatz.“
Mit den völlig überzogenen Sicherheitsmaßnahmen in diesem Prozess und den Ausführungen in dem Schreiben an den Zentralen Kriminaldienst verdeutlicht das Gericht, dass es sich offensichtlich von Zerrbildern und historischen Überlagerungen nicht freimachen kann. Die dort angeforderte „Gefährdungsanalyse“ liegt dem Gericht mittlerweile vor. Uns wurde hierzu mitgeteilt, dass diese sehr allgemein gehalten und wenig aussagekräftig sei. Allerdings sehr geheim.
Die Verteidigung hatte mit Schreiben vom 11. Februar 2025 Akteneinsicht in die Gefährdungsanalyse des LKA Niedersachsen beantragt und dabei ausgeführt, dass es für die Verteidigung nicht hinnehmbar sei, dass Dokumente, auf die sich sowohl das Landgericht Verden als auch die Haftanstalt im Rahmen der Ausgestaltung der Haftbedingungen beziehen und mit denen massive Eingriffe in Grundrechte unserer Mandantin gerechtfertigt werden sollen, hier unbekannt sind und damit eine Verteidigung gegen diese Verletzung von Persönlichkeitsrechten von Frau Klette verunmöglicht wird.
Der Antrag der Verteidigung wurde mit Beschluss des Landgerichts Verden vom 14. Februar 2025 abgelehnt. Dort heißt es u.a. wie folgt:
„Bei der Gefährdungsanalyse handelt es sich nicht um ein Aktenbestandteil, auf das sich das Akteneinsichtsrecht gem. § 147 Abs. 1 StPO erstreckt. Vielmehr handelt es sich um innerdienstliche Arbeitsunterlagen bzw. interne Vorgänge der polizeilichen und gerichtlichen Verwaltung, die der Kammer lediglich zur Kenntnisnahme übersandt wurden. Diese haben auch keinen Eingang in die Akten gefunden und unterliegen nur dem verwaltungsinternen Dienstgebrauch. Zudem betrifft die Gefährdungsanalyse nicht die Schuld- und Rechtsfolgenfrage.
Ein Anspruch folgt aus den vorstehenden Gründen auch nicht aus dem in Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 Buchst. b) EMRK garantierten Recht auf ein faires Verfahren.“
Ein Dokument also, welches mutmaßlich die Sichtweise der Kammer auf die Frage der Gefährlichkeit unserer Mandantin und ihres vermeintlichen „Umfeldes“ maßgeblich mitbestimmt und Einfluss auf die Art und Weise der Sonderbehandlung von Frau Klette hat und welches auch der Haftanstalt und vermutlich auch der Staatsanwaltschaft Verden bekannt ist, soll allein der Verteidigung vorenthalten werden. Mit einem allein dem „verwaltungsinternen Dienstgebrauch“ dienenden Dokument sollen besondere und die Persönlichkeitsrechte unserer Mandantin verletzende Maßnahmen gerechtfertigt werden und gleichzeitig die Verteidigung außerstande gesetzt werden, hiergegen effektiv vorgehen zu können.
Aus der Versagung der Akteneinsicht in die Gefährdungsanalyse des LKA spricht zudem ein generelles Misstrauen der Kammer gegenüber der Verteidigung, welches ebenfalls ein typisches Merkmal eines sog. „Terrorismus-Verfahrens“ ist.
Welche Gründe hat das Gericht, der Verteidigung dieses Dokument vorzenthalten? Warum möchte das Gericht nicht, dass wir unsere Mandantin gegen diese sicherheitspolitischen, in ihre Persönlichkeitsrechte unmittelbar eingreifenden Maßnahmen effektiv verteidigen können? Wir vermuten, dass mit der Offenlegung dieses Dokumentes die ganze Willkür und Haltlosigkeit der getroffenen Maßnahmen erkennbar werden würde. Das Gericht meint, Sonderinformationen über die angebliche Gefährlichkeit unserer Mandantin und/oder des unsere Mandantin unterstützenden solidarischen Umfeldes für sich behalten zu können. Die Verteidigung erkennt in dieser Verhaltensweise eine grundsätzliche Missachtung der unserer Mandantin und ihrer Verteidigung zustehenden Rechte und eine grundlegende Entscheidung gegen ein transparentes Verfahren, bei dem sich die Verfahrensbeteiligten auf Augenhöhe gegenüberstehen.
Für die Verteidigung ist somit bereits jetzt erkennbar geworden, dass die behauptete frühere RAF-Mitgliedschaft unserer Mandantin und die damit verbundenen Schlussfolgerungen ursächlich für die Sonderbehandlung von Frau Klette sind und das Landgericht Verden offenkundig nicht in der Lage ist, sich hiervon frei zu machen und bereits bei der äußeren Ausgestaltung des Verfahrens ihrer Behauptung, man wolle eine Stigmatisierung unserer Mandantin vermeiden, widerspricht.
Es handelt sich stattdessen um die kritiklose Übernahme von Vorgaben aus dem parallel durch den Generalbundesanwalt geführten Ermittlungsverfahren gegen Frau Klette wegen der Vorwürfe im Zusammenhang mit dem Vorwurf von RAF-Taten.
Hier hatte der Bundesanwalt Croissant mit Schreiben vom 27. Januar 2025 an die Ermittlungsrichterin beim BGH folgende Ergänzung des Haftstatuts für den Fall von Ausführungen unserer Mandantin beantragt:
„Die Beschuldigte ist während der gesamten Dauer von Verlegungen, Überstellungen, Ausantwortungen, Vorführungen und Ausführungen durch Beamte des Justizvollzugsdienstes sowie unterstützend durch bewaffnete Spezialkräfte des Justiz- oder Polizeivollzugsdienstes zu bewachen. Beim Transport ist die Beschuldigte durch wenigstens zwei Einsatzfahrzeuge zu begleiten, die jeweils mit mindestens vier bewaffneten Spezialkräften besetzt sind.
Keiner vorherigen richterlichen Genehmigung bedürfen Ausführungen in ärztlich festgestellten medizinischen Notfällen, in denen wegen akuter Lebensgefahr oder drohender bleibender gesundheitlicher Schäden eine unverzügliche Behandlung der Beschuldigten in einer medizinischen Einrichtung außerhalb des Justizvollzugs erforderlich ist. Die Beschuldigte ist in diesen Fällen während der Dauer der Ausführung in geeigneter Weise durch Beamte des Justizvollzugsdienstes und bewaffnete Beamte des Polizeivollzugsdienstes zu bewachen.“
Das ist Ausdruck einer feindstrafrechtlichen Sonderbehandlung, wie sie bei der Bundesanwaltschaft nicht überrascht, die jedoch von einer Strafkammer des Landgerichts Verden nicht übernommen werden sollte
Genau dies aber ist hier zu konstatieren: der ganze Ablauf der Vorführung unserer Mandantin und die Art und Weise, in der hier verhandelt werden soll, zeigen, dass sich die Kammer diese Ausführungen zu eigen gemacht und kritiklos übernommen hat.
Und man hätte anders gekonnt.
Schließlich hat auch die Ermittlungsrichterin des BGH in ihrem diesbezüglichen Beschluss vom 30. Januar 2025 klarstellend angemerkt, dass die Sitzungspolizei und das Hausrecht von Gerichten von dem Haftstatut unberührt bleiben. Das Landgericht Verden kann sich bei den von ihm zu verantwortenden Maßnahmen also auch nicht hinter den Vorgaben aus dem Haftstatut verstecken.
Bemerkenswert erscheint der Verteidigung auch, dass für den kommenden Verhandlungstag am 1. April 2025, an dem die eigentliche Beweisaufnahme beginnen soll, als erster Zeuge in diesem Verfahren der KHK Kuczora geladen worden ist. Einerseits vielleicht insofern nachvollziehbar, als dass dieser Zeuge maßgeblich mit der Festnahme unserer Mandantin im Februar 2024 in Berlin-Kreuzberg befasst gewesen sein soll und insoweit eine historische Plausibilität für diesen beabsichtigten Beginn der Beweisaufnahme spricht.
Die Vermutung liegt nahe, dass es dem Gericht dabei aber auch darum geht, mit diesem Zeugen einen vermeintlichen Ausspruch unserer Mandantin nach ihrer Festnahme in das Verfahren einführen zu wollen, in dem diese sich als „Daniela Klette von der RAF“ bezeichnet haben soll, und mit dem sodann die Kammer die Sonderbehandlung unserer Mandantin rechtfertigen will.
Auch insoweit aber ließe sich aus einer derartigen Argumentationsführung allein erkennen, dass das Gericht aus einer vermuteten früheren RAF-Mitgliedschaft unserer Mandantin, die spätestens mit der Auflösung der RAF im Jahre 1998 geendet haben müsste, noch für heute geltende Schlussfolgerungen bezüglich der Umstände, unter denen dies Verfahren geführt werden soll, ziehen möchte. Dass also Argumentationsmuster übernommen werden sollen, welche für die früheren RAF-Verfahren Geltung besessen haben.
Es handelt sich dabei um ein Muster, welches bereits im Zusammenhang mit dem Ermittlungsverfahren deutlich erkennbar wurde.
- Einfluss der behaupteten RAF-Mitgliedschaft auf die Beweisführung der Staatsanwaltschaft
Entgegen der von der anklageverfassenden Ersten Staatsanwältin verschiedentlich mündlich der Verteidigung aber auch im Rahmen von Zeug*innenvernehmungen diesen gegenüber geäußerten Auffassung, wonach es sich bei dem hiesigen Verfahren um ein von dem „RAF-Verfahren“ gänzlich unabhängiges Verfahren handele und sie das andere Verfahren „gar nicht interessiere“, ist auch dieses Verfahren von der Hypothese, dass Frau Klette in den frühen 90er Jahren Mitglied der RAF gewesen sei und sich in diesem Zusammenhang an schweren Straftaten beteiligt habe, geprägt. Eine Aufspaltung und strenge Trennung in ein „unpolitisches Verfahren“, in dem die Beteiligung der Angeklagten an Raubstraftaten zwischen den Jahren 1999 und 2016 untersucht werden soll, und ein „politisches Verfahren“, in dem es um die der RAF zugerechneten Straftaten geht, ist für die Staatsanwaltschaft Verden offensichtlich eine wünschenswerte Vorstellung. Spätestens die Anklageschrift und die Art und Weise der Ermittlungen jedoch bringen unmissverständlich zum Ausdruck, dass die vermeintliche RAF-Mitgliedschaft der Angeklagten für die Staatsanwaltschaft tatsächlich von fundamentaler Bedeutung ist und die Anklageschrift und den Verlauf des Verfahrens an zentraler Stelle prägt.
Nach hiesiger Auffassung durchzieht die Anklageschrift der denunziatorische Grundgedanke, dass es sich bei der Angeklagten um eine skrupellose Schwerverbrecherin handelt, die bereit ist, für die Durchsetzung ihrer kriminellen Ziele auch bedenkenlos Menschenleben in Kauf zu nehmen. Diese Auffassung – so wird im Folgenden dargelegt werden – kann nicht aus den isolierten Erkenntnissen aus dem hiesigen Ermittlungsverfahren rühren, sondern ist offenkundig von dem Bild, welches sich die Staatsanwaltschaft Verden von einer vermeintlichen ehemaligen Militanten der RAF macht, geprägt. Dieses Bild wiederum ist gespeist von einer hegemonialen, 27 Jahre nach Auflösung der RAF auch nicht mehr revidierbaren offiziellen Geschichtsschreibung zur Bewertung der RAF und ihrer damaligen Akteur*innen. Nach Auffassung der Verteidigung spricht aus der Anklage eine zum Zeitpunkt dieses Verfahrens fest zementierte, jedenfalls in diesem Verfahren nicht mehr auflösbare Imagination und Zuschreibung charakterlicher Eigenschaften und brutaler Handlungsbereitschaft früherer RAF-Mitglieder. Auch wenn die der Angeklagten in dem Verfahren der Bundesanwaltschaft vorgeworfenen Straftaten mittlerweile mehr als 30 Jahre zurückliegen, wird eine unveränderliche, gleichsam wesensmäßige Bereitschaft suggeriert, nach der die Angeklagte bis heute rücksichtslos bereit sei, auch von der Schusswaffe Gebrauch zu machen und hierbei auch bedenkenlos den Verlust von Menschenleben in Kauf zu nehmen. Es wird also von der Angeklagten ein Bild gezeichnet, welches dem Bild der offiziellen Geschichtsschreibung zur RAF und ihrer Bewertung entspricht. Es ist das Bild einer Dämonisierung, welches seine Ursprünge in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts hat und das keine Brüche kennt. Und es ist ein Bild, in dem ein Versagen des Rechtstaats keinen Platz findet. Aus der Anklageschrift und der Art und Weise, wie die Staatsanwaltschaft Verden das Ermittlungsverfahren geführt hat, spricht die Absicht der bruchlosen Fortführung des justiziellen Umgangs mit vermeintlichen Mitgliedern der RAF aus der Vergangenheit. Es werden die Schatten der Vergangenheit beschworen, so, als ob sich seit Anfang der 90er Jahre nichts Wesentliches verändert hätte, so, als ob es die RAF immer noch gäbe.
Bereits der verlesene konkrete Anklagesatz enthält an zentraler Stelle einen unmittelbaren Bezug auf die vermutete frühere RAF-Mitgliedschaft der Angeklagten Frau Klette und den beiden gesondert Verfolgten.
Den einzelnen konkreten Anklagepunkten ist hier eine Art Vorbemerkung vorangestellt, in der zunächst die vermeintliche Verbindung der Angeklagten zu den gesondert verfolgten Burkhard G. und Ernst-Volker S. thematisiert wird. Ohne, dass dies von der Staatsanwaltschaft ausdrücklich thematisiert wird, spricht aus dieser Art von Einführung in die konkret vorgeworfenen Straftaten die den Ermittlungen insgesamt zugrunde gelegte Hypothese, wonach es sich bei der Angeklagten und den beiden genannten gesondert Verfolgten um die letzten aktiven Mitglieder der RAF handelt, welche auch nach der Selbstauflösung der RAF im Jahre 1998 im Untergrund verblieben seien und die vorgeworfenen Raubtaten zur Sicherung ihres Lebensunterhaltes verübt hätten.
In dieser heute bereits verlesenen Vorbemerkung in der Anklageschrift finden sich in einer Art von zentralen Leitsätzen folgende Ausführungen, die hier nochmals vorgetragen werden sollen:
„Die Angeschuldigte Klette und die gesondert Verfolgten Burkhard G. und Ernst-Volker S. fassten im Zeitraum von mindestens 1999 bis 2016 den Plan, gemeinsam immer wieder Geldtransporter oder Kassenbüros zu überfallen. Seit mindestens 1990 lebten sie im Untergrund, wobei sie falsche Personalien und falsche inländische und ausländische Ausweisdokumente nutzten. Sie gingen bei den Überfällen arbeitsteilig und äußerst konspirativ vor. So spähten sie die jeweiligen Tatorte zuvor aus, nutzten verschiedene Tarnidentitäten für die Anmietung der erforderlichen Fahrzeuge, fertigten Zeichnungen der tatbetroffenen Objekte und besprachen die Aufteilung der Beute. Dabei betrachteten sie die zeitaufwendige Planung und die Ausführung von schweren Raubüberfällen unter Mitführung von Waffen als ihre Arbeit. Einer anderweitigen – angemeldeten – Erwerbstätigkeit gingen sie nicht nach. Durch die geplanten Straftaten wollten sie sich eine dauerhafte Einnahmequelle schaffen und hierdurch ihren Lebensunterhalt finanzieren. Zu der beabsichtigten Vorgehensweise gehörte auch die Mitnahme einer nicht funktionstüchtigen, aber echt aussehenden Panzerfaust, von Langwaffen oder Elektroschockern und / oder Pistolen. Die Angeschuldigte und die gesondert Verfolgten wollten hierdurch Widerstände überwinden und die Waffen gegebenenfalls gegen die jeweiligen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen einsetzen. Hierbei bezogen sie auch die Möglichkeit von Verletzungshandlungen mit in ihre Pläne ein. Um ihr Ziel – Geld zu erbeuten – zu erreichen, nahmen sie auch die Möglichkeit tödlicher Verletzungen billigend in Kauf.“
Der zitierte Passus ist der Auftakt zu einer Beweisführung, bei der unterstellt wird, dass es immer dieselben drei Personen sind, die letzten verbleibenden Angehörigen der RAF, welche diese Raubüberfälle begangen haben.
Dieser vermeintliche mit der Geschichte der RAF zusammenhängende Hintergrund wird an anderer Stelle bei den Ausführungen in den wesentlichen Ermittlungen zum Fall 4 der Anklage, der Raubtat in Bochum-Wattenscheid, wie folgt konkretisiert:
„Hinzu kommt, dass es sich bei den Tatverdächtigen S., Klette und G. – so der dringende Verdacht – um die letzten der noch im Untergrund lebenden ehemaligen Mitglieder der sog. dritten Generation der terroristischen „Rote Armee Fraktion“ („RAF“) handelte.“
Entscheidend ist, welche Schlussfolgerungen die Staatsanwaltschaft Verden aus diesem Verdacht zieht.
Was hier behauptet wird ist, dass bereits spätestens im Jahre 1999, dem Jahr des ersten angeklagten Raubüberfalls, durch das Trio Klette, G. und S. ein Plan geschmiedet worden sein soll, der u.a. auch den Einsatz von Schusswaffen unter Inkaufnahme der Tötung von Menschen beinhaltet haben soll. Die Staatsanwaltschaft schlägt einen großen Bogen vom Jahr 1999 zu dem Jahr 2015, dem Überfall in Stuhr. Es wird vollständig negiert, dass es auch nach der Anklage 16 Jahre gedauert hat, bis es tatsächlich einmal zu einer Schussabgabe gekommen ist. Über diesen langen Zeitraum, so behauptet die Staatsanwaltschaft, habe ständig eine latente Tötungsbereitschaft bestanden. Die Angeklagte und die gesondert Verfolgten sollen grundsätzlich in allen angeklagten Fällen bereit gewesen sein, von der Schusswaffe Gebrauch zu machen und dabei zur Erlangung der Beute jeweils auch skrupellos den Verlust von Menschenleben in Kauf zu nehmen.
Welche Anhaltspunkte hat die Staatsanwaltschaft für diese absurd erscheinende Behauptung? In der Anklageschrift können wir keine finden.
Der Inhalt dieser beziehungslos und unvermittelt aufgestellten Behauptung einer ständigen Tötungsbereitschaft der Angeklagten wird aus den sonstigen Ergebnissen der Ermittlungen nicht plausibel. Allein in 2 der insgesamt 13 angeklagten Fällen soll es zu einem Schusswaffeneinsatz der Täter gekommen sein. Allein in einem Fall, den ersten angeklagten Fall in Stuhr-Mackenstedt vom 06.06.2015 behauptet die Staatsanwaltschaft das Vorliegen eines bedingten Tötungsvorsatzes. Zur Fragwürdigkeit dieser Konstruktion hat die Verteidigung bereits an anderer Stelle ausführlich vorgetragen. Im Fall 13 der Anklage, dem Überfall auf einen Transporter in der Ortschaft Cremlingen vom 25.06.2016, soll es zwar zu einem Schusswaffeneinsatz gekommen sein, ohne dass hiermit ein (bedingter) Tötungsvorsatz verbunden gewesen sein soll.
In den weiteren 11 Fällen ist es zu keinem Schusswaffeneinsatz gekommen. Bei keiner einzigen der vorgeworfenen Taten ist es überhaupt zu einer physischen Verletzung einer betroffenen Person gekommen. In einer Vielzahl von Fällen gibt es konkrete Hinweise und Zeug*innenaussagen, wonach es den Tätern auch immer darum gegangen ist, den Einsatz von Schusswaffen tatsächlich nicht zur Anwendung kommen zu lassen bzw. diese allein zur Bedrohung der Tatopfer einzusetzen.
Woher kommt also die von der Staatsanwaltschaft behauptete generelle Tötungsbereitschaft bei den vermuteten Tätern? Welche Belege liefert die Staatsanwaltschaft für ihre These?
Festzustellen ist hier zunächst, dass der kryptisch bleibende schwere Vorwurf der Staatsanwaltschaft rätselhaft erscheint und mit dem Inhalt der Ermittlungsakten nicht in Übereinstimmung zu bringen ist.
Der Zuschreibung der Staatsanwaltschaft, die Darstellung der Angeklagten und der beiden gesondert Verfolgten als Straftäter, die brutal und rücksichtslos bereit sind, sich über Menschenleben hinwegzusetzen, kann somit nur aus verfahrensfremden Überzeugungen der Anklagevertretung herrühren.
Aufgrund des Fehlens anderweitiger Hinweise kann diese schwerwiegende brutalisierende Darstellung der Geisteshaltung der Angeklagten und der beiden gesondert Verfolgten allein damit zusammenhängen, dass es – ohne dass dieses bislang gerichtlich festgestellt worden ist – für die Staatsanwaltschaft bereits feststeht, dass die Angeklagte als ehemaliges Mitglied der RAF über eine derartige skrupellose Grundhaltung verfügen muss. Es werden somit seitens der Staatsanwaltschaft aus der vermuteten ehemaligen RAF-Mitgliedschaft Rückschlüsse hinsichtlich der angeblichen Verwendungsabsicht der mitgeführten Schusswaffen gezogen. Die Staatsanwaltschaft vermittelt damit gleichzeitig, welche Assoziationen bei ihr durch die vermutete frühere RAF-Mitgliedschaft hervorgerufen werden und dass diese imaginierten Bilder von zu allem bereiten Terroristen als unabänderlich und auf das hiesige Strafverfahren übertragbar angesehen werden. Die staatlich produzierten Vorstellungen, die bei der Verfolgung ehemaliger Mitglieder der RAF in den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts maßgeblich waren, die Bilder aus einer Zeit, in der sich die Bundesrepublik Deutschland und die RAF unversöhnlich gegenüberstanden und es auf beiden Seiten zu einer Vielzahl von Toten gekommen ist, prägen auch heute noch entscheidend die Vertreterinnen der Staatsanwaltschaft Verden bei der Beurteilung der Angeklagten und bei der Bewertung der Taten. Festzustellen ist, dass sich die Staatsanwaltschaft entgegen ihrer Ansage, dass sie das „RAF-Verfahren“ nicht interessieren würde, tatsächlich nicht lösen kann von den Schatten der Vergangenheit, die über diesem Verfahren liegen.
Deutlich wird diese unmittelbar mit einer Vorverurteilung der Angeklagten als ehemalige RAF-Straftäterin zusammenhängende Position der Staatsanwaltschaft auch aus Abschnitten in den „wesentlichen Ergebnissen“ im Zusammenhang mit den Anklagevorwürfen Fall 4 (Raubüberfall in Bochum-Wattenscheid) und Fall 5, dem Raubüberfall vom 14.04.2009 in der Ortschaft Löhne.
Im Fall Bochum-Wattenscheid versucht die Staatsanwaltschaft die behauptete Anwesenheit der Frau Klette am Tatort trotz des Fehlens eindeutiger Beweismittel mit der vermuteten RAF-Mitgliedschaft und den für sie sich hieraus ergebenden Erkenntnissen zu belegen. Die Lücke bei der Beweisführung soll mit vermeintlichen Erkenntnissen zur Struktur der RAF gefüllt werden.
Wörtlich heißt es hier auf S. 470 der Anklageschrift wie folgt:
„Hinzu kommt, dass es sich bei den Tatverdächtigen S., Klette und G. – so der dringende Verdacht – um die letzten der noch im Untergrund lebenden ehemaligen Mitglieder der sog. dritten Generation der terroristischen „Rote Armee Fraktion“ (,RAF“) handelte. Die Struktur dieser Gruppierung bei der Planung und Ausführung ihrer Taten war folgendermaßen: Entscheidungen zu „Aktionen“ (also welches Ziel angegriffen werden sollte und wie der Anschlag vom Grundsatz her verlaufen sollte) wurden durch die sog. Illegalen, die im Untergrund lebenden Mitglieder, gemeinsam getroffen (Grundsatz der „Kollektivität“), Über die Einzelheiten der Tatausführung entschieden jedoch die Mitglieder des (Tat“)Kommandos, die mit der Vorbereitung, Planung und Durchführung der Tat betraut waren (Bd. 2, BI. 561 f., 566 ff., 576 f., 580,585,592,595, 597 f.). Sehr unwahrscheinlich ist, dass in diesem Zusammenhang andere (im Übrigen unbeteiligte) Mitglieder der „RAF“ oder sogar Dritte (bloße Unterstützer der „RAF“) tätig wurden (Bd. 2, BI. 580 f., 583, 585 ff., 597). Diesen Grundsätzen, die möglicherweise für die Tatverdächtigen während des Bestehens der „RAF“ galten, würde jedoch es widersprechen, sollte nicht die Angeschuldigte Klette, sondern eine andere – dritte – Person in die Tatplanung und die Tatbegehung der gesondert Verfolgten S. und G. eingebunden gewesen sein.“
Woher rühren nun diese Erkenntnisse der Staatsanwaltschaft über die angebliche Struktur der RAF?
Aus der Ermittlungsakte zum Fall Bochum ergibt sich, dass sich der früher für dieses Verfahren zuständige Staatsanwalt Beneke am 24.11.2020 hilfesuchend an das BKA gewandt hat und sich nach dortigen Erkenntnissen zur Art und Weise der Tatplanung und Tatbegehung innerhalb der RAF erkundigt hat. Daraufhin wurden dem Staatsanwalt Beneke von BKA-Beamten Dateien mit Auszügen aus Urteilen des Oberlandesgerichts Frankfurt gegen die früheren RAF-Mitglieder H1. vom 28.04.1994 und H2. vom 05.11.1997 übersandt, sowie eine Datei mit dem vom Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs gegen den im hiesigen Verfahren gesondert Verfolgten Herrn S. erlassenen Haftbefehl vom 09.05.2018.
In der Bochumer Ermittlungsakte sind Auszüge dieser Entscheidungen enthalten. Aus dem Urteil gegen H1. ergibt sich die Herkunft der damaligen Erkenntnisse des OLG Frankfurt. Im Wesentlichen beziehen sich diese Erkenntnisse zur kollektiven Entscheidungsstruktur innerhalb der RAF auf eine Aussage des früheren RAF-Mitglieds P., der bis zu seiner Festnahme im Jahre 1984 Mitglied der RAF gewesen sein soll.
Wir konstatieren somit zunächst folgendes:
Die Staatsanwaltschaft Verden argumentiert in ihrer Anklage hinsichtlich einer behaupteten Beteiligung der Angeklagten Frau Klette im Fall Bochum-Wattenscheid mit Erkenntnissen aus Aussagen einer Person, die vor mehr als 40 Jahren festgenommen worden ist. Die Angaben des P. zur Struktur der RAF in den 70er und frühen 80er Jahren werden herangezogen, um eine Beteiligung der Frau Klette im Jahre 2006 bei einem Raubüberfall zu begründen. Die Struktur der RAF aus den ersten Jahren ihres Bestehens soll übertragen werden auf die Struktur einer Personengruppe, die Jahrzehnte später das Kassenbüro eines Real-Supermarktes überfallen hat. Deutlicher kann nicht zum Ausdruck gebracht werden, wie die Staatsanwaltschaft Verden versucht, eine direkte Spur von der RAF zu den Tätern der hier angeklagten Raubtaten zu ziehen und wie bruchlos Fragmente früherer juristischer Argumentationen aus den RAF-Verfahren hinsichtlich der Zurechnung von Taten bei der Beweisführung im hiesigen Verfahren herangezogen werden. Bemerkenswert bei einer Anklageverfasserin die gleichzeitig etwa im Rahmen von Zeugenvernehmungen keine Gelegenheit ausgelassen hat, zu behaupten, dass sie die RAF in diesem völlig unpolitischen Verfahren überhaupt nicht interessieren würde.
Die Staatsanwaltschaft lässt erkennen, dass sie verhaftet ist in Argumentationsmustern aus den RAF-Verfahren. Argumentationsmustern, die umstandslos in das 21. Jahrhundert gezogen werden sollen und unbeschadet der Tatsache, dass die RAF längst Geschichte ist, bei der Beweisführung im hiesigen Verfahren Verwendung finden sollen.
Erkennbar wird an dieser und an weiteren Passagen aus der Anklageschrift die Willkürlichkeit der Trennung der beiden Verfahren gegen die Angeklagte Frau Klette. Versatzstücke aus dem RAF-Komplex werden von der Staatsanwaltschaft willkürlich da, wo es ihr passend erscheint, übernommen und für das hiesige Verfahren verwendet.
Neben der Absurdität einer derartigen Beweisführung kommt hinzu, dass auch die Auswahl der Erkenntnisse aus den früheren RAF-Verfahren durch die Staatsanwaltschaft Verden willkürlich ist. Bei Durchführung dieses Verfahrens müsste aufgrund der staatsanwaltschaftlichen Argumentationsführung eine inzidente Beweisaufnahme über die Mitgliedschaft und den Zeitraum der Mitgliedschaft der Angeklagten in der RAF sowie über die Struktur der RAF im Laufe ihrer Geschichte, insbesondere aber in den letzten Jahren ihres Bestehens, stattfinden. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass die Angeklagte Frau Klette spätestens im Jahre 1990 in den Untergrund gegangen und sich sodann der RAF angeschlossen habe. Insofern betreffen die Urteilsgründe der von der Staatsanwaltschaft Verden in Bezug genommenen Entscheidungen des OLG Frankfurt Zeiträume, zu denen sich Frau Klette auch nach staatsanwaltschaftlicher Auffassung der RAF noch nicht angeschlossen hatte.
Hinsichtlich der Struktur der RAF hätte die Staatsanwaltschaft Verden, wenn sie sich denn schon mit der früheren Rechtsprechung zur RAF auseinandersetzt, schließlich auch die Revisionsentscheidung des BGH im Strafverfahren gegen H2. zur Kenntnis nehmen müssen. In dieser Entscheidung vom 13. Februar 1998 heißt es u.a. wie folgt:
„Der Senat kann nicht mit der erforderlichen Sicherheit annehmen, dass das Oberlandesgericht Frankfurt auch ohne Berücksichtigung der `need-to-know-Regel´ von der Beteiligung der Angeklagten an dem Kommando und damit als Mittäterin überzeugt gewesen wäre. (…) Zudem hat von einer solchen Handhabung bei der RAF – von den RAF-Mitgliedern M. und M. inhaltlich bestätigt – das bereits im Juli 1984 festgenommene RAF-Mitglied P. in dem genannten Urteil gegen H1. berichtet. Das besagt indes nichts zu der Handhabung eines Kommandounternehmens im Jahre 1993, das von Mitgliedern einer personell und strukturell geänderten RAF mit seit 1992 grundlegend veränderter Zielsetzung durchgeführt wurde. (…).“
Der BGH hat also bereits vor 27 Jahren festgestellt, dass die Art und Weise, mit der die bundesdeutsche Justiz bis dahin Beweisregeln für eine mittäterschaftliche Beteiligung in den sog. RAF-Verfahren aufgestellt hat, für die Zeit ab mindestens 1992 keine Gültigkeit mehr besitzen. Dass es seitdem eine grundlegend veränderte Struktur und Zielsetzung der RAF gegeben hat.
Der BGH bezieht sich hier auf eine Erklärung der RAF von April 1992, in der es heißt, dass „wir uns entschieden haben, dass wir von uns aus die Eskalation zurücknehmen. Das heißt, wir werden Angriffe auf führende Repräsentanten aus Wirtschaft und Staat für den jetzt notwendigen Prozess einstellen.“
Das heißt also, dass die Staatsanwaltschaft mit ihrem recht schmalspurig anmutenden Versuch, über eine kurze Anfrage beim BKA, Erkenntnisse über die Struktur der RAF zu gewinnen und diese sodann im Rahmen ihrer Beweisführung im hiesigen Verfahren anzuwenden, bereits deshalb falsch liegt, weil diese vermeintlichen strukturellen Erkenntnisse in der überwiegenden Zeit, in der Frau Klette der RAF angehört haben soll, ohnehin bereits Geschichte waren.
Und gleichzeitig soll die Behauptung, dass es sich bei Frau Klette um eine der drei letzten untergetauchten RAF-Mitglieder handeln soll, als für die gesamte Anklage geltende vereinfachte Beweisführung dafür herhalten, dass immer dann, wenn eine Tatbeteiligung von Burkhard G. oder von Ernst-Volker S. von der Staatsanwaltschaft behauptet wird, automatisch die dritte anwesende Person auch die Angeklagte gewesen sein muss. Und selbst wenn überhaupt nur zwei Personen von Zeugen beschrieben wurden, dann muss sich nach der Argumentation in der Anklage die dritte Person, die Angeklagte, irgendwo vor Ort verborgen haben.
Der enge Bezug zu dem RAF-Komplex, der für die Staatsanwaltschaft Verden im Rahmen ihrer Beweisführung maßgeblich ist, und die dabei zu konstatierende Unkenntnis historischer Tatsachen lässt sich auch im Fall 5 der Anklage, den Raubüberfall in der Ortschaft Löhne, feststellen.
Die Staatsanwaltschaft hat auch in diesem Fall das Problem, dass es weder Zeugenaussagen noch sonstige Beweismittel gibt, die konkret auf eine Anwesenheit der Angeklagten Frau Klette am Tatort hinweisen. Weder gibt es DNA-Spuren, die auf eine Tatbeteiligung der Frau Klette hindeuten könnten, noch gibt es entsprechende Zeug*innenaussagen. Gleichwohl geht die Staatsanwaltschaft Verden davon aus, dass es sich bei dem unerkannt gebliebenen Fahrer des Fluchtfahrzeugs um Frau Klette gehandelt haben muss. Um das gewünschte Ziel einer Tatbeteiligung der Frau Klette zu erreichen, erfolgt auch hier dann kurzerhand der argumentative Rückgriff auf behauptete Erkenntnisse zur Struktur der RAF.
Wörtlich heißt es auf S. 485 der Anklageschrift wie folgt:
„Tatbeteiligung durch die Angeschuldigte Klette
Zwar sind bei der Spurensicherung keine molekulargenetischen Spuren der Angeschuldigten Klette aufgefunden worden und der Fahrer des Tatfahrzeugs wurde durch Zeugen nicht gesehen. Allerdings ist hinreichend wahrscheinlich, dass es sich bei dem Fahrer des Tatfahrzeugs um die Angeschuldigte Klette handelte: Einerseits waren die Tatverdächtigen S., Klette und G. möglicherweise die letzten der noch im Untergrund lebenden ehemaligen Mitglieder der sog. dritten Generation der terroristischen „RAF“. In dieser Gruppierung wurden die Entscheidungen zu „Aktionen“ durch alle im Untergrund lebenden Mitglieder (die sog. Illegalen) gemeinsam getroffen. Über die Einzelheiten der Tatausführung entschieden die Mitglieder des „Kommandos“, das mit der Vorbereitung, Planung und Durchführung der Tat beauftragt war (vgl. hierzu Bd. 1, B!. 411). Außenstehende waren also weder bei der Entscheidung über die Tat noch bei der Ausführung der Tat beteiligt. Diesen Prinzipien würde es widersprechen, wenn die gesondert Verfolgten S. und G. bei der Tatbegehung Dritte einbezogen hätten.“
Also nicht nur im Fall des Raubüberfalles in Bochum, sondern auch im Fall Löhne versucht die Staatsanwaltschaft Mängel in der Indizienkette durch den Kunstgriff, vermeintliche Erkenntnisse zur Struktur der RAF in das Verfahren einzuführen, auszugleichen.
Und im Fall Löhne geht es dann auch noch munter weiter. Nicht allein die behauptete Anwesenheit unserer Mandantin am Tatort, nein, auch das die Behauptung, dass die Täter bei diesem Raub Waffen bei sich geführt haben, soll nun mit der mutmaßlichen früheren RAF-Mitgliedschaft der Tatverdächtigen plausibel gemacht werden:
Unter der Überschrift „Waffen“ heißt es auf S. 486 der Anklage wie folgt:
„Es ist wahrscheinlich, dass zumindest einer der gesondert Verfolgten S. und G. eine Faustfeuerwaffe dabeihatte, mag sie auch für die Zeuginnen A. und B. nicht sichtbar gewesen oder von den Zeuginnen nicht wahrgenommen worden sein. Nahezu ausschließen kann man, dass die drei, die über Handfeuerwaffen verfügten, einen Raubüberfall unbewaffnet begingen. Bereits die mögliche Mitgliedschaft in der linksterroristischen „Rote Armee Fraktion“ („RAF“) begann mit der Übergabe einer Faustfeuerwaffe als Zeichen dieser Mitgliedschaft. Großkalibrige Faustfeuerwaffen führten die Mitglieder der „RAF“ ständig zugriffsbereit und geladen mit sich, wobei die Übereinkunft bestand, bei drohender Festnahme ohne Rücksicht von der Waffe Gebrauch zu machen, um eine Festnahme zu verhindern.“
Es soll an dieser Stelle nicht weiter thematisiert werden, woher die vermeintlichen Erkenntnisse der Ersten Staatsanwältin zu den Praktiken der RAF herrühren, vermutlich aus dem Sachbuch von Butz Peters mit dem Namen „Tödlicher Irrtum: die Geschichte der RAF.“
Entscheidend ist, dass, auch wenn die Staatsanwaltschaft hier vordergründig nur von einer „möglichen Mitgliedschaft“ der Angeklagten und der gesondert Verfolgten in der RAF ausgeht, sie sich gleichzeitig nicht daran gehindert sieht, diese These der Mitgliedschaft auch hier bei der Beweiswürdigung in einer für die Angeklagten nachteiligen Art und Weise zu berücksichtigen. Dies gilt sowohl für die oben zitierte Beweisführung im Fall des Raubüberfalls von Bochum-Wattenscheid als auch im Fall 5 der Anklage, dem Raubüberfall in dem Ort Löhne.
Ganz unzweifelhaft lässt die Staatsanwaltschaft auch an dieser Stelle erkennen, dass die These der früheren RAF-Mitgliedschaft von Frau Klette im Rahmen der Beweiswürdigung Bedeutung haben soll und mit ihr Lücken in der Beweisführung geschlossen werden sollen.
Vermeintliche Erkenntnisse über die RAF, deren Ursprünge nicht offengelegt sind und die jedenfalls in hiesiger Ermittlungsakte keinen Rückhalt finden, sollen bei der Frage einer Tatbeteiligung der angeklagten Frau Klette Berücksichtigung finden.
Und es wird weiter deutlich, dass jedenfalls seitens der Staatsanwaltschaft ein Bild von der RAF und ihrer vermeintlichen Mitglieder gezeichnet wird, welches ungebrochen in die Gegenwart hineingezogen wird.
Es wird mit dieser Passage zweierlei dokumentiert:
Erstens: wenn ein Raubüberfall von Personen verübt wird, bei denen die Staatsanwaltschaft von einer früheren RAF-Mitgliedschaft ausgeht, wird mit größter Wahrscheinlichkeit von mindestens einem der Täter immer eine Schusswaffe mitgeführt. Ganz unabhängig davon, ob Zeugen diese Waffe gesehen haben oder – wie im Fall des Raubüberfalles von Löhne – dieses nicht der Fall ist.
Ein klassischer Zirkelschluss: weil die Staatsanwaltschaft davon ausgeht, dass die Angeklagte und die beiden gesondert Verfolgten früher einmal der RAF angehört haben sollen, so ist auch von einer Bewaffnung auszugehen. Und weil – eben wegen dieser vermuteten früheren Mitgliedschaft – von einer Bewaffnung mit Schusswaffen auszugehen ist, so liegt nach Auffassung der Staatsanwaltschaft auch ein Indiz dafür vor, dass es die Angeklagte Frau Klette sowie Herr G. und Herr S. gewesen sein sollen, die diese Straftat begangen haben.
Und zweitens lässt es sich die Staatsanwaltschaft auch in diesem Zusammenhang nicht nehmen, wiederum zu suggerieren, dass nicht nur bei der Tat von Löhne, sondern insgesamt bei allen der Angeklagten zugeschriebenen Raubtaten und insgesamt im Falle einer drohenden Festnahme die Übereinkunft eines rücksichtslosen Gebrauchs dieser Schusswaffen bestanden haben soll.
Auch hier gilt: einen Beleg für diese Behauptung bleibt die Staatsanwaltschaft schuldig. Es ist allein der behauptete RAF-Kontext der Tat, welcher die Staatsanwaltschaft zu ihrer Schlussfolgerung führt. Welchen anderen Grund als diese Unterstellung sollte die Staatsanwaltschaft sonst gehabt haben, diese Passage von der ständigen rücksichtslosen Bereitschaft des Einsatzes einer Schusswaffe aufzustellen?
Es zeigt sich abermals, welchen unmittelbaren Einfluss die unterstellte frühere RAF-Mitgliedschaft unserer Mandantin für die Beweisführung der Staatsanwaltschaft hat und weitergehend, welche ungebrochenen Bilder hiermit bei der Staatsanwaltschaft Verden ausgelöst werden. Es wird hier am Beispiel Löhne das oben zitierte Motiv aus der Vorbemerkung zu den einzelnen konkret vorgeworfenen Straftaten wieder aufgenommen: die angeblich bestehende Bereitschaft der Täter, immer von der Schusswaffe Gebrauch zu machen und dabei jeweils auch den Tod von Menschen billigend in Kauf zu nehmen. Das ist insgesamt der Subtext dieser Anklage. Das ist das, was wir als Ausdruck einer politischen Justiz begreifen.
Und genau hiermit wird deutlich, wie weitgehend die Staatsanwaltschaft Verden sich bei ihrer Anklage von Bildern leiten lässt, die der herrschenden Geschichtsschreibung über die RAF entsprechen. Es geht um die propagandistisch aufgeladene ungebrochene Behauptung einer Killer-Mentalität bei Menschen, die früher einmal der RAF angehört haben sollen.
Da spielt es auch keine Rolle mehr, dass in die Jahre, in denen Frau Klette der RAF angehört haben soll, auch die Erklärung von 1992 fällt, wonach es zukünftig keine Angriffe auf Repräsentant*innen von Staat und Wirtschaft mehr geben soll. Und es spielt keine Rolle, dass die RAF im Jahre 1998 öffentlich ihre Auflösung erklärt hat.
Willkürlich und zufällig anmutend werden – teils unter Bezugnahme auf willkürlich ausgewählte Dokumente, teils einfach behauptend – vermeintliche Erkenntnisse der Staatsanwaltschaft Verden zur Vorgehensweise von mutmaßlichen RAF-Mitgliedern in das Ermittlungsverfahren eingeführt.
Wir werden unten darlegen, dass diese Problematik nicht allein die Staatsanwaltschaft, sondern ebenso das LG Verden betrifft, welches die Anklageschrift hinsichtlich der in ihr enthaltenen RAF-Bezüge unverändert zugelassen hat. Die Verteidigung wäre bei Durchführung des Verfahrens gezwungen, gegen diese zementierte und von der Staatsanwaltschaft entsprechend übernommene Geschichtsschreibung anzukämpfen. Wir müssten uns also in einen angesichts der Übermächtigkeit der im Laufe der Jahrzehnte stattgefundenen Festschreibung der angeblichen historischen Wahrheit zur RAF und ihrer Geschichte in eine von vornherein aussichtslose Auseinandersetzung mit diesem hegemonialen Geschichtsbild begeben.
Es müsste im Rahmen dieses Verfahrens vor dem Landgericht Verden dann eine inzidente Beweisaufnahme nicht nur zur Frage einer möglichen früheren RAF-Mitgliedschaft der Frau Klette, sondern darüberhinausgehend auch zur Geschichte der RAF in den verschiedenen Phasen ihres Bestehens, insbesondere auch über die Bedeutung der RAF-Erklärungen aus den 1990er Jahren, stattfinden. Da wir nun aus den zitierten Auszügen aus der Anklageschrift wissen, welche Bedeutung die vermutete frühere RAF-Mitgliedschaft unserer Mandantin für die Beweisführung der Staatsanwaltschaft hat, wäre die Verteidigung gezwungen, sich eben etwa auch mit der Frage auseinanderzusetzen, welche tatsächlichen Erkenntnisse zur Bewaffnung von RAF-Mitgliedern existieren, was es mit der Behauptung des Bestehens einer Übereinkunft, rücksichtslos von der Schusswaffe Gebrauch zu machen, auf sich hat und inwieweit dieses Bild, welches in diesen Passagen der Anklageschrift von der RAF skizziert wird, tatsächlich zutrifft bzw. welche der Bundesrepublik Deutschland und seinen Staatsorganen zuzuschreibenden Verbrechen bei der Eskalation der Gewalt in den 70er und 80er Jahren mitverantwortlich waren und inwieweit die staatliche Informationspolitik eine einseitige Verzerrung der Sichtweisen bewirkt hat.
Es wäre dann auch darüber zu sprechen, welcher Anteil staatlichen und justiziellen Versagens dazu geführt hat, dass Menschen in den Untergrund gegangen sind und für sich keine legale Perspektive mehr gesehen haben.
Wenn die Staatsanwaltschaft Verden ihre Sichtweise auf die RAF und ihre damit verbundenen Bewertungen auf die beschriebene Art und Weise in diesem Verfahren zur Diskreditierung unserer Mandantin und ihrer behaupteten Geschichte einführen möchte, dann müsste in diesem Verfahren auch darüber gesprochen werden, welche blinden Flecken diese Erzählung, die eine Erzählung der Herrschenden ist, aufweist.
Wir müssten etwa darüber sprechen, welche Bedeutung das Bild des toten Holger Meins, den man in seinem Widerstand gegen die Isolationshaft mit brutaler Rohheit hat verhungern lassen, für viele junge Menschen damals hatte. Und dessen Tod vom damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt mit folgenden Worten kommentiert wurde:
»…und darüber hinaus soll ja niemand vergessen, dass der Herr Meins Angehöriger einer gewalttätigen, andere Menschen vom Leben zum Tode befördernd habenden Gruppe, nämlich der Baader-Meinhof-Gruppe war. Und nach alledem, was Angehörige dieser Gruppe Bürgern unseres Landes angetan haben, ist es allerdings nicht angängig, sie, solange sie ihren Prozess erwarten, in einem Erholungsheim unterzubringen. Sie müssen schon die Unbequemlichkeiten eines Gefängnisses auf sich nehmen.«
Wir müssten etwa auch über den Mechanismus sprechen, der in den 70er Jahren im Zusammenhang mit der Schleyer-Entführung dazu führte, dass dieser Staat ein Antlitz zeigte, in dem die faschistische Vergangenheit plötzlich wieder sichtbar wurde und das in dem die demokratischen Instanzen ersetzenden „kleinen Krisenstab“ dann „exotische Lösungen“ des RAF-Problems diskutiert worden sind, wie etwa die stündliche Hinrichtung eines Gefangenen, die nachträgliche Einführung der Todesstrafe, Sippenhaft für die Angehörigen der Gefangenen, die freigepresst werden sollten. Wo es innerhalb kürzester Zeit eine Informations- und Kontaktsperre sowie eine Mobilmachung des gesamten Überwachungssystems gegeben hat.
Und wir müssten dann – vermutlich auch gegen erheblichen Widerstand des Gerichts – versuchen, auch über die staatlich zu verantwortenden Todesschüsse, über den Begriff der Killfahndung, über Bad Kleinen, über die Art und Weise der Isolationshaft der politischen Gefangenen und die Bedeutung, die dies für die Entwicklung der bewaffneten Auseinandersetzung hatte, verhandeln. Darüber, was es bei jungen Menschen ausgelöst hat, dass Menschen über die Haftbedingungen zugrunde gerichtet worden sind oder werden sollten. Einem Haftsystem, über das die damalige grüne Bundestagsabgeordnete Antje Vollmer einmal folgendes geschrieben hat:
„Für die Hochsicherheitstrakte, für die Isolation, für dies hygienisch saubere Wegschließen der RAF-Gefangenen wird sich unsere Zivilisation einmal schämen müssen wie das Mittelalter für seine Inquisitionen und Scheiterhaufen. Die Hochsicherheitstrakte waren der Einstieg, alle Haftanstalten in ein nahezu perfektes System der Totalabschottung der politischen und gesellschaftlichen Problemfälle zu verwandeln, mit denen sich die offizielle Politik bloß repressiv und die Linke lieber gar nicht befassen wollte. Es war immer widersinnig, jegliche Gesprächsmöglichkeit der RAF-Gefangenen untereinander zu unterbinden. Nichts wäre dringender gewesen, als dass gerade sie miteinander diskutiert hätten, untereinander und mit Besuchern von draußen, die mit ihnen auch politisch zu streiten in der Lage gewesen wären. Sicherheitsgründe waren es nie, die dies verhindert haben. Es war die deutsche Hysterie und der Wunsch nach dem unerschütterlichen Feindbild, nach Menschen, die keine Geschichte haben dürfen. Diese Perfektion der jahrelangen Sendepause, des sicherheitsüberprüften Wegschließens, wo nichts Menschliches mehr durchkriecht, das macht uns so schnell keiner nach.“
Diese Erzählung kommt in dem Versuch der Geschichtsschreibung der Staatsanwaltschaft Verden über die RAF und die dabei vorgenommene Dämonisierung ihrer Mitglieder als skrupellose Verbrecher*innen nicht vor. Die Staatsanwaltschaft Verden fragt sich nicht etwa- obwohl sich dies sich im hiesigen Verfahren eigentlich aufdrängt, wenn man der Person der Angeklagten und ihrer Geschichte gerecht werden wollte – warum Menschen lieber jahrzehntelang unter einer anderen Identität und der ständigen Gefahr vor der Entdeckung leben, als sich einem Staat und einem Justizsystem auszuliefern, von dem sie keine Fairness und Unabhängigkeiterwarten. Und auch nicht, welche Bedeutung der Ortsname Bad Kleinen in diesem Zusammenhang hat.
In deutlicher Art und Weise hat C. B., eine Tochter des von der RAF 1986 erschossenen G. von B., in einem jüngst im ND veröffentlichten Beitrag versucht, dieses Problem der Verdrängung der historischen Bedingungen des bewaffneten Kampfes, der damaligen staatlichen Maßnahmen und der allein staatlich dominierten Sichtweise auf diese „bleierne Zeit“ zu beschreiben. Es gehe dabei um die Reduzierung der damaligen Kämpfe auf die von der RAF verübten Gewalt. Und um die Ausblendung der staatlichen Gewalt und der gesellschaftlichen und politischen Bedingungen, unter denen die Auseinandersetzungen in den 70er und 80er Jahren stattfanden. Die Forderung an frühere Mitglieder der RAF, ihr Schweigen zu brechen, folge „einer kriminalisierenden, individualisierenden und damit entpolitisierenden Logik, die dem Vorbild der staatlichen Rhetorik und des hegemonialen Diskurses über RAF und linken bewaffneten Widerstand überhaupt“ entspräche. Der Ruf nach „Aufklärung“ diene ja gerade „dem hegemonialen Versuch, den Widerstandscharakter linksradikaler Kämpfe zu verleugnen und unkenntlich zu machen. (…) Für die staatliche Gewalt gegen Mitglieder und Unterstützer:innen der RAF hat sich auch P. von B. nie interessiert. Mir sind keine öffentlichen Äußerungen bekannt, in denen er die staatliche Verfolgung und die Haftbedingungen gefangener (ehemaliger) RAF-Mitglieder als gewaltsam kennzeichnen würde. (…) Ebenso wenig interessieren sich andere Mitglieder meiner Familie, die sich öffentlich zum Thema RAF geäußert haben, und interessiert sich speziell P. von B. für das systematische Gewalthandeln, mit dem die gesellschaftlichen „Gewaltverhältnisse“ – die Burkhard G. in seinem Schreiben zu Recht so bezeichnet und auch im Einzelnen benennt – auf vielen Ebenen und von diversen Institutionen, von staatlichen bis in die Familie hinein, aufrechterhalten und täglich aufs Neue aktiv durchgesetzt werden. Am wenigsten interessiert sich mein Bruder für die Gewalt gesellschaftlich dominanter Gruppen und Individuen gegen sozial Untergeordnete – wie etwa Klassenjustiz, patriarchale Gewalt oder transnationale Beziehungen der Ausbeutung, Unterdrückung und des Krieges, von denen die Wirtschaftseliten (auch) in der BRD profitiert haben und heute profitieren -, gegen welche linke bewaffnete Gruppen, von der RAF bis zur Roten Zora, gekämpft haben. (…) Von Repression innerhalb der BRD, von der personellen Kontinuität des Nationalsozialismus in diese hinein über die Verabschiedung der Notstandsgesetze gegen breiten Protest in den 1960er Jahren bis hin zum Radikalenerlass in den 70ern ist hier nichts zu ahnen. Genauso wenig von den Kriegsverbrechen der USA im Vietnamkrieg und dem transnationalen Charakter des teils friedlichen, teils bewaffneten Widerstands dagegen in der BRD: all dies muss mein Bruder ausblenden, um die Entstehung und das Handeln der RAF als unbegründet, sogar als „absurd“ darstellen zu können. Äußerungen wie die zitierten entpolitisieren nicht nur die RAF, sondern zielen auf eine Diskreditierung militanten linken Widerstands überhaupt. (…)“
Was C. B. hier beschreibt entspricht der Art und Weise, mit der die Staatsanwaltschaft Verden ihren Blick auf die Geschichte der RAF wirft. Es ist die Perspektive einer Siegerjustiz, in der die Dämonisierung der RAF spiegelbildlich mit einer Tabuisierung staatlicher Verbrechen einhergeht.
Der Verteidigung ist bewusst, dass es kaum möglich sein wird, diese einseitige, geschichtsklitternde offizielle staatliche Sicht auf die RAF und ihre Geschichte in diesem Verfahren zu erschüttern und dass angesichts des Zeitablaufes der Geschehnisse und der stattgefundenen Mythenbildungen eine andere Sichtweise nicht durchsetzbar sein kann. Es geht hier allein darum, darzustellen, dass die offizielle Geschichtsschreibung, die hier durch die Institution der Staatsanwaltschaft vertreten wird, von vornherein zu Lasten unserer Mandantin und zu Lasten eines fairen Verfahrens geht.
Die Staatsanwaltschaft versucht ihr einseitiges Bild von den Jahren des bewaffneten Kampfes zu konservieren und in das 21. Jahrhundert zu übertragen. Dieses Bild beinhaltet keine staatlichen Verbrechen, keine kollektiven oder individuellen Brüche, keine historischen Veränderungen. Die Bedeutung der Auflösung der RAF aus dem Jahre 1998 wird negiert. Als ob es diese Auflösung nie gegeben hat. Und als ob die bewaffnete Auseinandersetzung zwischen der RAF und der Bundesrepublik aus dem längst vergangenen letzten Jahrhundert umstandslos übertragen werden kann etwa auf einen Raubüberfall aus dem Jahre 2009 in der Ortschaft Löhne.
Wer einmal bei der RAF war, besitzt die Bereitschaft, zu töten. Und sei es auch nur zur Erlangung von Geld. So das, nennen wir es unterkomplexe, Geschichtsbild der Staatsanwaltschaft Verden.
Die Anklageschrift und die gerichtliche Eröffnungsentscheidung verdeutlichen, dassdie unterstellte frühere RAF-Mitgliedschaft der angeklagten Frau Klette auch den Verlauf der Hauptverhandlung und die Art und Weise der Beweisführung entscheidend beeinflussen werden.
Dies gilt nicht allein in den zitierten Fällen, in denen die Staatsanwaltschaft ganz ausdrücklich Bezug auf die RAF-Thematik nimmt. Insbesondere die Unterstellung einer generellen Tötungsbereitschaft bei der Angeklagten dürfte für das gesamte Verfahren und für die Beurteilung der Persönlichkeit unserer Mandantin zentral sein. So ist auch davon auszugehen, dass die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, den Fall in Stuhr als versuchtes Tötungsdelikt anzuklagen, mit von der dort bestehenden Überzeugung geprägt ist. Wenn ohnehin eine generelle Bereitschaft unterstellt wird, zur Erlangung der Beute auch den Verlust von Menschenleben in Kauf zu nehmen, so ist der Schritt, dann auch im Fall Stuhr zum Ergebnis einer versuchten Tötung zu gelangen, deutlich kürzer, als wenn wie üblich von einer insoweit bestehenden Hemmschwelle ausgegangen wird.
- Einfluss der behaupteten RAF-Mitgliedschaft der Angeklagten auf das Ermittlungsverfahren
Der Einfluss, den die Vermutung der früheren RAF-Mitgliedschaft der Angeklagten auf das hiesige Verfahren hat, lässt sich nicht nur aus der Art und Weise der Beweisführung in der Anklageschrift entnehmen. Auch der Umfang der Ermittlungen, die Art und Weise der Durchführung der Ermittlungen und die Sonderbehandlung unserer Mandantin weisen deutlich darauf hin, dass wir es mit einem Verfahren zu tun haben, in dem der von der Staatsanwaltschaft unterstellte politische Kontext an vielen Punkten maßgeblich war.
Bereits der Umfang der Anklageschrift von annähernd 700 Seiten ist äußerst ungewöhnlich und zeigt den besonderen Ermittlungsaufwand, der in diesem Verfahren betrieben worden ist, auf.
Die Akte hatte bereits vor Wochen einen Umfang von ca. 15 GB bzw. 1.138 Dateien, 30 Umzugskartons oder 48.000 Seiten. Mittlerweile ist der Umfang gigantisch angestiegen. Nun gibt es noch weitere Aktenbestandteile mit einem Umfang von sage und schreibe 18 Terrabyte. Akten von denen niemand, auch das Gericht nicht, weiß, was sie eigentlich beinhalten.
Aus Vermerken von Beamten des LKA Niedersachsen ergibt sich, dass das Verfahren „stark priorisiert“ werde. Die Ressourcen der Ermittlungsbehörden scheinen in diesem Verfahren unbegrenzt zu sein. Die niedersächsische Justizministerin gibt öffentliche Erklärungen ab, in denen sie kundtut, dass sie mit einem „außergewöhnlichen Prozess“ rechne.
Es fand eine monatelange Suche nach geeigneten Räumlichkeiten für diesen Prozess statt, welche den angeblich besonderen Sicherheitsbedürfnissen dieses Verfahrens entsprechen sollen. In diesem Zusammenhang wird eine „besondere Gefahrenlage“ suggeriert. So, als ob die RAF weiter existiere und jederzeit mit Befreiungsversuchen unserer Mandantin gerechnet werden müsste.
Die Absurdität dieser Mutmaßungen lässt sich den Begründungen der Ermittlungsrichterin des BGH bei der Versagung von Besuchsanträgen bzw. der Entziehung von Besuchserlaubnissen entnehmen. Auch wenn diese im Zusammenhang mit dem Ermittlungsverfahren gegen Frau Klette wegen der Vorwürfe im Zusammenhang mit dem RAF-Komplex erfolgten, so lassen sich die Sicherheitsmaßnahmen und verschiedene Maßnahmen im hiesigen Verfahren nicht anders erklären, als dass die dort aufgeführten grotesk anmutenden Begründungen auch hier in dem Verfahren vor dem Landgericht Verden Gültigkeit besitzen sollen.
Beispielhaft für die verschwörungstheoretisch anmutenden Argumentationsmuster soll hier aus zwei Entscheidungen der Ermittlungsrichterin Frau Dr. Dietsch/BGH zitiert werden.
Die Besuchserlaubnis einer Freundin von Frau Klette wird mit BGH-Beschluss vom 28.10.2024 widerrufen. Die Begründung dieses Widerrufs wird zentral wie folgt dargelegt:
„Bei dem letzten Besuch am 9. Oktober 2024 äußerte die Besucherin ohne Bezug zum vorherigen Gesprächsinhalt und nachdem das Gespräch auf A. M. gekommen war, die Worte „Sonne. Fenster. Baum. …den du sehen kannst.“ Hierbei wich die Besucherin merklich von ihrer gewohnten Art zu sprechen ab. Hierauf reagierte die Beschuldigte Klette nickend. Wenngleich sich das hieran anschließende Gespräch damit befasste, was die Beschuldigte aus den Fenstern ihres Haftraumes sehen kann, womit scheinbar an die Äußerung der Besucherin angeknüpft wurde, besteht der Verdacht, dass es sich bei den Worten „Sonne. Fenster. Baum.“ um Teile eines der Beschuldigten verständlichen Codes (etwa nach dem Prinzip des Geolokalisationssystem „what3words“) handelte, mittels dessen S. C. der Beschuldigten eine versteckte Botschaft zukommen ließ.“
Man fühlt sich erinnert an Bert Brecht und sein Gedicht „An die Nachgeborenen“:
„Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist“
Und Anträge auf Besuchserlaubnisse für ehemalige Mitglieder der RAF werden von der Karlsruher Ermittlungsrichterin mit der Begründung abgelehnt, dass Frau Klette versuchen könnte, die Besuche zu nutzen, um eine Flucht zu planen oder über die Besucher Kontakt mit ihren noch auf der Flucht befindlichen mutmaßlichen Komplizen aufzunehmen.
In der Ablehnung eines Besuchsantrags des u.a. wegen RAF-Mitgliedschaft im Jahre 1978 verurteilten mittlerweile 70-jährigen S. heißt es etwa:
„Es besteht deshalb die konkrete Gefahr, dass die Beschuldigte versuchen könnte, den Besuch des Antragstellers zu nutzen, um Vorkehrungen für eine Flucht zu treffen oder über den Besucher auf unlautere Weise auf ihre weiterhin flüchtigen mutmaßlichen Mittäter und damit auf den Gang des Ermittlungsverfahrens einzuwirken. (…) Bei der Entscheidung hat das Gericht nicht verkannt, dass sich die RAF zum einen selbst aufgelöst hat und zum anderen eine Beteiligung der Beschuldigten an dieser Vereinigung nicht mehr verfolgbar ist. Andererseits ist bei den Besuchen der Frau M. bei der Beschuldigten deutlich geworden, dass sich auch „viele ehemalige Gefangene“ auf einer Geburtstagsfeier des Antragstellers eingefunden haben, die die Beschuldigte ihrerseits grüßen lässt. Hieraus ist ein fortbestehender Kontakt der Mitglieder der aufgelösten Vereinigung abzuleiten.“
Unabhängig von der Absurdität der Unterstellung, dass aus derartigen Kontakten die Möglichkeit des gemeinsamen Schmiedens von Fluchtplänen abgeleitet werden soll, bleibt die Frage, wie dieses angesichts der ununterbrochenen polizeilichen Überwachung jeglicher Besuche bei der Angeklagten überhaupt denkbar sein soll.
Die Besonderheiten dieses Verfahrens und seine unmittelbare Verknüpfung mit der RAF-Thematik lassen sich auch bei der Anzahl, der Auswahl und der Art und Weise der von der von der Staatsanwaltschaft Verden durchgeführten Zeug*innenvernehmungen erkennen.
Unter der Überschrift „Umfeldermittlungen, Erkenntnisse zur Person der Angeschuldigten Klette“ werden in der Anklageschrift bereits 25 Zeug*innen aus dem aktuellen persönlichen Umfeld der Angeklagten aber auch frühere RAF-Mitglieder wie K. aufgeführt. In der Ermittlungsakte sind allein 5 Sonderhefte aus dem Parallelverfahren des GBA mit einem Umfang von ca. 1000 Seiten zu „Kontaktpersonen Klette“ enthalten. Sie enthalten eine Vielzahl von Zeugenvernehmungen aus dem persönlichen Umfeld der Angeklagten.
Weiter befinden sich bei den Ermittlungsakten mehrere „Sonderhefte Vernehmungen“ aus dem hiesigen Verfahren, welche allein Zeug*innenvernehmungen zu der Angeklagten und den beiden gesondert Verfolgten enthalten, die nicht im Zusammenhang mit den einzelnen konkreten Anklagevorwürfen stehen.
In einem Vermerk zu Zeug*innenvernehmungen vom Februar 2024 erläutert die ermittlungsführende Staatsanwältin ihre Herangehensweise: den Zeug*innen sei vor Beginn ihrer Vernehmungen u.a. erläutert worden, dass es ihr Ziel sei, „das Risiko eines Schusswechsels in einer Festnahmesituation zu vermeiden“. Es gehe darum, „weitere Tote zu verhindern, egal auf welcher Seite.“
In einem Schreiben an Familienangehörige des gesondert verfolgten Burkhard G. teilt die Staatsanwaltschaft mit, es sei ihr „sehr daran gelegen, ein mit einer Festnahme durch Sondereinsatzkräfte verbundenes Risiko“ bei einer Verhaftung des Burkhard G. zu vermeiden.
Wie kommt die Staatsanwaltschaft auf die Idee, dass es im Zusammenhang mit Festnahmen bei den hier Tatverdächtigen zu einem Schusswechsel kommen kann und dass es „weitere Tote“ geben könnte? Ganz offensichtlich beziehen sich die „weiteren Toten“ auf die bewaffneten Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit Festnahmen von vermeintlichen ehemaligen RAF-Mitgliedern im letzten Jahrhundert.
Auch an dieser Stelle ist unmittelbar erkennbar, welche Bedeutung es für die Staatsanwaltschaft hat, dass die Tatverdächtigen der Raubüberfälle früher einmal bei der RAF gewesen sein sollen. Immer besteht die Gefahr, dass es Tote gibt. Das gilt heute wie damals. Die Bereitschaft, etwa im Zusammenhang mit einer beabsichtigten Festnahme, zu schießen, gibt es auf beiden Seiten – also bei der Polizei und bei den Festzunehmenden. Es drängen sich die Bilder von Bad Kleinen im Juni 1993 auf: am Ende sterben der GSG 9 Beamte Michael Newrzella und das vermeintliche RAF-Mitglied Wolfgang Grams. Viele Indizien deuten darauf hin, dass Wolfgang Grams in einem Zustand der Wehrlosigkeit von der Polizei erschossen worden ist. Die Liste der von der Polizei „auf der Flucht erschossenen“ angeblichen Mitglieder linker bewaffneter Organisationen ist lang. Namen, die heute kaum noch jemand kennt. Petra Schelm, Georg von Rauch, Thomas Weißbecker gleich zu Beginn der 70er Jahre und danach noch viele andere. Das dürfte auch der Staatsanwaltschaft Verden bekannt sein. Warum also wird den Angehörigen des Burkhard G. gesagt, dass es bei dessen Festnahme zu weiteren Toten kommen könnte und er sich deshalb besser freiwillig stellen sollte? Den Angehörigen soll die Gefahr vermittelt werden, dass ihr Sohn, ihr Bruder, bei seiner Festnahme erschossen werden könnte. Nicht überraschend sieht ein Verteidiger des Burkhard G. darin eine Bedrohung seines Mandanten.
Und zur Beeinflussung vieler Zeug*innen hat sich die Staatsanwaltschaft noch etwas weiteres einfallen lassen. Bevor überhaupt die erste inhaltliche Frage gestellt wird, wird vielen Zeug*innen erst einmal das Video von dem Raubüberfall aus Stuhr gezeigt. Das Video, auf dem Schussabgaben auf das Geldtransporterfahrzeug zu sehen sind und welches für die Staatsanwaltschaft eine wesentliche Grundlage für die Behauptung eines Tötungsversuches darstellt. Aus welchem Grunde wohl verfährt die Staatsanwaltschaft Verden so? Es geht – völlig unabhängig von dem Beweisthema, zu dem die Zeug*innen befragt werden sollen – darum, diesen klarzumachen, dass es nicht angebracht ist, sich einer umfassenden Kooperation zu verweigern, sondern dass es hier um eine brutal und rücksichtslos handelnde, zur Tötung eines anderen Menschen bereite Person geht. So, als ob die Täterschaft des Burkhard G. und auch seine Tötungsbereitschaft bereits feststehe.
Beispielhaft sei in diesem Zusammenhang folgendes Zitat aus einem Vernehmungsprotokoll einer Person aus dem Umfeld der Familie G. wiedergegeben:
„Weiterhin wurde Ihnen gerade ein Video von der Tat vom 06.06.2015 vorgespielt. Damals haben drei schwer bewaffnete Täter versucht einen Geldtransporter auf dem Gelände des „Real Marktes“ in Stuhr-Mackenstedt zu überfallen. Sie haben gesehen mit welcher Brutalität und Aggressivität diese vorgegangen sind. Einer der Täter war mit einer Kalaschnikow bewaffnet und hat drei Schüsse auf den Geldtransporter abgegeben. Nur glücklichen Umständen ist es zu verdanken, dass der Fahrer dabei nicht verletzt oder sogar tödlich verletzt wurde.“
Der Subtext lautet: bitte keine falsche Rücksichtnahme mit diesen Tätern. Das haben sie nicht verdient. Es handelt sich um skrupellose, brutale Gangster. Die Beweislage hinsichtlich einer versuchten Tötung ist eindeutig.
Auch hier dokumentiert die Staatsanwaltschaft Verden ihren Verlust jeglicher professionellen Distanz und Objektivität. Und einmal mehr wird mit dieser Vorgehensweise deutlich: es geht nicht um ein „ganz normales“ Strafverfahren. Hier werden alle Register gezogen, hier finden feindstrafrechtlich anmutende Charakterisierungen statt, die sich im Kontext der RAF-Zuschreibungen bewegen.
Die Staatsanwaltschaft Verden ist offensichtlich von der Obsession des Weiterbestehens früherer RAF-Strukturen geleitet. Immer wieder finden sich in der Ermittlungsakte entsprechende Spuren. Bei einem großen Teil der vernommenen Zeug*innen handelt es sich um Personen, die in der Vergangenheit wegen Mitgliedschaft in der RAF verurteilt worden sind oder die vor ca. 40 Jahren in den damals besetzten Häusern in der Hamburger Hafenstraße gewohnt haben sollen und in diesem Zusammenhang auf Frau Klette, Herrn G. oder Herrn S. getroffen sein sollen. Personen, die etwa Herrn G. allein aus Schulzeiten her kennen, werden intensiv zu dessen damaligen politischen Aktivitäten befragt. In vielen Vernehmungen geht es um die frühere Struktur der RAF, immer wieder werden Fragen gestellt, die sich mit der Konstruktion von der 1., 2. und 3. RAF-Generation beschäftigen. Mitnichten geht es bei diesen Befragungen allein um die Gewinnung von Erkenntnissen, die etwa zur Ergreifung des flüchtigen Burkhard G. führen könnten. Es geht der Staatsanwaltschaft Verden erkennbar auch um die Frage, ob sich für die hiesigen Ermittlungen aus der früheren Struktur der RAF und der Frage, wer ihr zuletzt noch angehört hat, auch Erkenntnisse gewinnen lassen, die für das hiesige Verfahren Relevanz besitzen.
So schreibt etwa die Staatsanwaltschaft in einem Brief an den früheren Innenminister und Strafverteidiger Dr. Otto Schily:
„Ist Ihnen bekannt, wer zur Dritten Generation der RAF gehörte? (Weitere Mitglieder wären für das hiesige Verfahren von Interesse, um mehr Informationen über die Beschuldigten zu erlangen. Ich weise ausdrücklich darauf hin, dass ich nicht wegen RAF-Delikten ermittele! Das ist ausschließlich Sache der Bundesanwaltschaft.)“
Nein, die Staatsanwaltschaft ermittelt nicht wegen der „RAF-Delikte“. Aber sie führt Ermittlungen, die sich unmittelbar auf die RAF beziehen und möchte die dabei gewonnenen Erkenntnisse zur angeblichen Struktur der RAF im hiesigen Verfahren im Rahmen der Beweiswürdigung in der Form verwenden, um ihre These, wonach es sich bei den jeweils an den einzelnen Raubüberfällen beteiligten Personen immer um die 3 Angeklagten als letzte verbliebene Akteure der „3 Generation“ handelt, zu stützen. Und immer wieder wird von der Staatsanwaltschaft diese These im Rahmen von Zeug*innenbefragungen auch dazu genutzt, eine besondere, direkt mit der vermuteten früheren RAF-Mitgliedschaft der Angeklagten und ihrer vermeintlichen Mittäter zusammenhängende moralische Abwertung der Tatverdächtigen vorzunehmen, indem sie andeutet, dass sich die RAF ja immerhin noch gegen die Mächtigen aus Staat und Kapital gewandt habe, während von den Raubtaten nun die sog. „kleinen Leute“ betroffen seien.
So heißt es beispielsweise in einer Zeugenvernehmung:
„Was sagen Sie dazu, dass die sog. Dritte Generation der RAF jetzt im Verdacht steht, diverse Raubtaten begangen zu haben, wobei insbesondere auch „kleine Leute“, wie Fahrer von Geldtransportern oder Angestellte von Kassenbüros, geschädigt und verletzt wurden?“
Und es geht der Staatsanwaltschaft weiter darum, Belege für ihre These des Weiterbestehens alter RAF-Strukturen zu gewinnen. So wird allein aus der Tatsache, dass auch K. in Berlin wohnt, ein Indiz für einen bestehenden Kontakt zu Burkhard G. konstruiert.
So äußert sich die vernehmende Erste Staatsanwältin im Rahmen einer Zeuginnenvernehmung u.a. wie folgt:
„Ich habe ihr weiter gesagt, dass ich persönlich fest davon überzeugt bin, dass Herr K. zu allen drei Kontakte hatte und auch weiterhin Kontakt zu den Herren G. und S. hat.“
Oder auch dieser Vorhalt im Rahmen einer Zeugenvernehmung:
„Bei den aktuellen Ermittlungen ist immer wieder klargeworden, dass K. offensichtlich eine dominante Rolle gespielt hat bzw. immer noch hat.“
Und bei ihren Eindrucksvermerken zu einzelnen Zeug*innen, bei dem diese auch gern mit Attributen wie etwa „zickig“, „patzig“, „spitz“ oder „geschwätzig“ belegt werden, heißt es dann etwa:
„Insgesamt besteht der Eindruck, dass die alten Strukturen weiter fortbestehen. Eine gewisse Reue war bei Frau H. nicht festzustellen. Sie wirkte insgesamt in ihren Aussagen sehr harsch und bestimmt.“
Konkrete Hinweise für das Bestehen alter RAF-Strukturen, die über Kennverhältnisse oder gelegentlichen privaten Austausch zwischen ehemaligen Angehörigen der RAF sprechen, kann die Staatsanwaltschaft Verden dabei nicht vorlegen. Diese scheinen angesichts der Tatsache, dass die Geschichte der RAF Jahrzehnte zurückliegt und die ehemaligen Akteur*innen sich mittlerweile sämtlich im fortgeschrittenem Alter befinden, auch eher einer nicht tatsachenbasierten Fixierung der Staatsanwaltschaft Verden zu entspringen. Wobei sich diese Fixierung nicht allein auf die imaginierten RAF-Strukturen bezieht, sondern offenkundig darüberhinausgehend auch vom Willen getragen ist, insgesamt Erkenntnisse über linke Strukturen zu erfahren. Anders sind jedenfalls Fragen an Zeug*innen, die sich etwa auf Verbindungen zur Roten Flora oder zur Roten Hilfe beziehen, kaum zu begreifen.
Auch die Fahndungsmaßnahmen gegen Burkhard G. und Ernst-Volker S. weisen zurück auf lange vergangene Zeiten. An Zeiten, die mit dem Begriff „Deutscher Herbst“ verbunden sind. Zeiten also, in denen zentrale rechtsstaatliche Grundsätze im Rahmen einer öffentlichen Mobilmachung nicht nur gegen die vermeintlichen Mitglieder der RAF, sondern insbesondere auch gegen ihre sogenannten Sympathisant*innen, innerhalb kürzester Zeit aufgehoben wurden.
So gab es im vergangenen Jahr eine Vielzahl von oft medial spektakulär begleiteten Festnahmen von Personen, die im Rahmen ausufernder Fahndungsmaßnahmen fälschlich für G. oder S. gehalten wurden und bei den Betroffenen traumatische Folgen hinterlassen haben. Tagelang patroullierten gepanzerte niedersächsische Spezialeinheiten durch die Berliner Bezirke Friedrichshain und Kreuzberg. Es fanden rabiate Hausdurchsuchungen statt. Die Bewohner*innen des Bauwagenplatzes, auf dem Burkhard G. zuletzt gelebt haben soll, sahen sich einem polizeilichen Belagerungszustand ausgesetzt. Teile der Straße, in der unsere Mandantin gewohnt hat, wurden evakuiert, die Straße komplett gesperrt, begründet mit der sensationsheischenden Falschmeldung, dass in der Wohnung von Frau Klette Sprengstoff und sog. USBV – unbekannte Spreng/Brandvorrichtungen – gefunden worden seien. Oder eine Panzerfaust, die eigentlich auf den ersten Blick als nicht funktionsfähiges Imitat zu erkennen gewesen wäre. Wochenlang hielten sich diese Behauptungen in der Öffentlichkeit, die spätere Richtigstellung in der Presse wurde kaum noch zur Kenntnis genommen. Die Bewohner*innen des Hauses wurden in den Glauben versetzt, sie hätten in den vergangenen Jahren auf einem Pulverfass gelebt, das jederzeit hätte hochgehen können.
Und der in Staatsschutz-Kreisen angesehene „RAF-Experte“ Butz Peters versäumt es in einem Interview mit der Berliner Zeitung nicht, gleich den ganzen Stadtteil Kreuzberg als Hort von linken Kriminellen zu diskreditieren:
„Kreuzberg ist ein einmaliges soziales Biotop in dieser Republik. Dicht besiedelt, in Teilen schnieke, in weiten Teilen traditionell alternativ. Hier zählen für viele Gesetze und Staat nicht viel. Wenn ich abtauchen müsste, wäre Kreuzberg für mich erste Wahl.“
Ein Sound, der von dem rechtsradikalen Magazin Tichys Einblicke gern aufgenommen wird:
„Dass sie dort wie ein Fisch im Wasser leben konnte zeigt, wie normal politische Gewalt in der Linken ist.“
Da ist er wieder, der Sympathisanten-Sumpf, 50 Jahre nach seiner Erfindung. Und in diese von Staatsanwaltschaft und Teilen der Medien erzeugte Stimmung passt dann auch die Nachricht, dass eine Betriebsrätin eines Bremer Krankenhauses von ihrer Arbeitsstelle entbunden worden ist, nachdem sie eine Solidaritätskundgebung vor der JVA Vechta angemeldet hatte.
Das ist die Hintergrund-Musik dieses angeblich völlig unpolitischen Verfahrens
- Die Konsequenzen aus den vorgenommenen RAF-Bezügen, der Einseitigkeit der Ermittlungen, der Vorverurteilung und der Sonderbehandlung unserer Mandantin für das hiesige Verfahren
Das Landgericht Verden ist – wie dargelegt – der Auffassung, es könne in dem hiesigen Verfahren den sog. RAF-Hintergrund vollständig ausblenden und, abgesehen von der behaupteten Notwendigkeit besonderer Sicherheitsmaßnahmen, ein „ganz normales Strafverfahren“ gegen Frau Klette durchführen.
Diese gerichtliche Absicht kommt sehr deutlich in dem Beschluss vom 4. Februar 2025, mit dem die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Verden zur Hauptverhandlung zugelassen worden ist, zum Ausdruck.
Hier heißt es unter „f.) „RAF“-Bezüge“ wie folgt:
„Soweit die Staatsanwaltschaft Verden (Aller) im Rahmen ihrer Anklageschrift vom 05.11.2024 Bezüge zur „RAF“ („Rote Armee Fraktion“) herstellt und diesen indizielle Bedeutung für die Täterschaft der Angeklagten beimisst, so hat die Kammer diese Begründungen für die Annahme des hinreichenden Tatverdachts nicht mit einbezogen.“
Es handelt sich um ein Statement, mit dem vermutlich über die konkrete Eröffnungsentscheidung hinausgehend eine Klarstellung versucht wird: wenn die Staatsanwaltschaft hier „RAF-Bezüge“ in das Verfahren einführen will, so hat das für uns keine Bedeutung. Wir interessieren uns nicht für die RAF, sondern uns geht es allein um die Ahndung von ganz konkreten Raubdelikten.
Gleichzeitig aber lässt der Eröffnungsbeschluss des Landgerichts Verden insgesamt erkennen, dass es sich bei dieser Behauptung um ein reines Lippenbekenntnis handelt, welches ohne Konsequenzen bleibt und von den eigenen Ausführungen in dem Eröffnungsbeschluss widerlegt wird.
Dies lässt sich an sämtlichen Punkten, in denen die Staatsanwaltschaft in der Anklageschrift im Rahmen ihrer Beweisführung RAF-Bezüge verarbeitet, feststellen. Abgesehen von einigen Abweichungen hinsichtlich der rechtlichen Bewertung von Sachverhalten hat das Landgericht hinsichtlich aller angeklagten Taten einen hinreichenden Tatverdacht bejaht und sich den Sachverhaltsschilderungen der Staatsanwaltschaft angeschlossen und formuliert, dass nach Maßgabe der Grundsätze des § 203 StPO nach vorläufiger Bewertung des Sachverhalts durch die Kammer ein hinreichender Tatverdacht gegen die Angeklagte entsprechend der der Angeklagten zur Last gelegten Taten aus der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Verden vom 05.11.2024 bestehe.
Wortgleich zu den Ausführungen in der Anklageschrift heißt es auch in dem Eröffnungsbeschluss wie folgt:
„Zu der beabsichtigten Vorgehensweise gehörte auch die Mitnahme einer nicht funktionstüchtigen, aber echt aussehenden Panzerfaust, von Langwaffen oder Elektroschockern und / oder Pistolen. Die Angeklagte und die gesondert Verfolgten wollten hierdurch Widerstände überwinden und die Waffen gegebenenfalls gegen die jeweiligen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen einsetzen. Hierbei bezogen sie auch die Möglichkeit von Verletzungshandlungen mit in ihre Pläne ein. Um ihr Ziel – Geld zu erbeuten – zu erreichen, nahmen sie auch die Möglichkeit tödlicher Verletzungen billigend in Kauf.“
Wir haben oben bereits dargelegt, dass sich die Behauptung eines durch sämtliche der vorgeworfenen Taten durchziehender Tötungsvorsatz bei der Angeklagten und den gesondert Verfolgten nicht aus den Ermittlungsergebnissen ableiten lassen, sondern dass es sich hierbei um eine Unterstellung handelt, die allein aufgrund der vermuteten früheren RAF Mitgliedschaft von Frau Klette, Herrn G. und Herrn S. sowie den damit verbundenen Zuschreibungen erklären lassen.
Indem das Landgericht diese Formulierung der Staatsanwaltschaft Verden eins zu eins übernimmt und sich damit zu eigen macht, lässt es erkennen, dass es der identischen aus verfahrensfremden Argumentationsmustern herrührenden Imagination unterliegt.
Gleiches gilt auch für die von der Staatsanwaltschaft im Rahmen der Beweisführung in den Fällen 4 (Bochum) und 5 (Löhne) der Anklage verwendeten Argumentation.
Im Fall Bochum-Wattenscheid hatten wir dargelegt, dass die Staatsanwaltschaft Verden bei ihrer Behauptung der Tatbeteiligung unserer Mandantin mit der angeblichen Struktur der RAF argumentiert hat. Auch hier hat das Landgericht Verden in dem Eröffnungsbeschluss ohne weiteres einen hinreichenden Tatverdacht gegen Frau Klette bejaht, ohne dabei die staatsanwaltschaftliche Argumentationsführung in Frage zu stellen.
Und auch in dem Fall in der Ortschaft Löhne, wo die Staatsanwaltschaft Verden die Behauptung des Mitführens von Waffen bei den Tätern und der Anwesenheit unserer Mandantin trotz fehlender entsprechender Zeug*innenaussagen in erster Linie damit begründet hat, dass schließlich bekannt sei, dass die Mitgliedschaft in der RAF mit der Übergabe einer Faustfeuerwaffe verbunden gewesen ist, die fortan ständig zugriffsbereit und geladen mitgeführt worden seien, heißt es in dem Zulassungsbeschluss des Landgerichts Verden nur lapidar:
„Zumindest einer der beiden (Täter) war, wie alle Tatbeteiligten wussten, mit einer Waffe bewaffnet.“
Da die Staatsanwaltschaft Verden außer ihrer etwas mysteriös daherkommenden Erkenntnis hinsichtlich der Waffen nur den Zirkelschluss angestellt hat, dass schließlich auch in den weiteren den Angeklagten zugerechneten Fällen Waffen verwendet wurden, muss also auch hier davon ausgegangen werden, dass das Landgericht Verden der RAF-bezogenen Argumentation der Staatsanwaltschaft gefolgt ist und dieser somit entgegen ihrer eigenen Behauptung doch eine indizielle Bedeutung beigemessen hat.
Die Feststellung, dass das Landgericht Verden offenkundig die von der Staatsanwaltschaft Verden hergestellten „RAF-Bezüge“ übernimmt, stellt ein generelles Problem hinsichtlich der Möglichkeit der Durchführung eines fairen, rechtsstaatlichen Verfahrens dar.
Diese Voreingenommenheit gegenüber unserer Mandantin ist hier als grundlegende, strukturelle Verfahrensproblematik zu begreifen, die nicht in allein in den Personen der handelnden Verfahrensbeteiligten begründet ist.
Die offenkundige Unfähigkeit der Staatsanwaltschaft, ihrer Objektivitätspflicht aus § 160 StPO Genüge zu tun und in der beschriebenen einseitigen Art und Weise zu Lasten der Angeklagten zu verfahren, hat ihre Ursache in der dargelegten jahrzehntelangen Dämonisierung der RAF und ihrer vermeintlichen früheren Mitglieder sowie der stattgefundenen historischen Festschreibungen. Sowohl das Verhalten der Staatsanwaltschaft Verden als auch des Landgerichts Verden lassen erkennen, dass die Justiz nicht in der Lage ist, sich von diesen Zuschreibungen zu befreien, sondern diese im Gegenteil kritiklos übernimmt und weiter fortsetzt.
Damit sind die Grundlagen für ein faires Verfahrens nicht gegeben.
Schon die offenkundige Einseitigkeit der staatsanwaltschaftlichen Vorgehensweise stellt eine erhebliche Verschiebung im Rahmen der Kräfteverhältnisse zwischen den Verfahrensbeteiligten zu Ungunsten der Angeklagten dar. Die Wirkung des sog. Perseveranzeffektes, wonach sich erste Eindrücke und Überzeugungsbildungen trotz hinzukommender Informationen später kaum noch verändern lassen, ist bekannt. Die von der Staatsanwaltschaft vorgenommene enge Verquickung zwischen der vermuteten RAF-Mitgliedschaft der Angeklagten und die damit verbundenen negativen Zuschreibungen haben vorliegend nicht allein bei der Staatsanwaltschaft, sondern auch beim Gericht deutliche Spuren hinterlassen, die auch im weiteren Verlauf des Verfahrens nicht mehr beseitigt werden können.
Eine Neutralität des Gerichts, eine tatsächliche vollständige Freimachung von den mit den behaupteten „RAF-Bezügen“ verbundenen Annahmen kann aufgrund der bezeichneten engen Verflechtungen im Rahmen der Beweisführung und den bereits jetzt schon feststellbaren Übernahmen dieser Argumentationslinien nicht mehr erwartet werden.
Diese Verflechtungen mit dem RAF-Verfahren sind nicht etwas, was kurzerhand mit einer entsprechenden gerichtlichen Behauptung aus dem Verfahren entfernt werden kann. Sie sind zentraler Bestandteil auch dieses Verfahrens und kontaminieren die Möglichkeit einer hiervon unabhängigen Beweisaufnahme. Die Voraussetzungen für die Führung eines fairen, rechtsstaatlichen Verfahrens sind damit nicht gegeben. Das Verfahren gegen Frau Klette ist somit einzustellen und der Haftbefehl entsprechend aufzuheben.
Ulrich von Klinggräff, Lukas Theune, Undine Weyers

