Aussetzungs- und Beiziehungsantrag der Verteidigung vom 1. April 2025

In der Strafsache gegen Daniela Klette, Aktenzeichen 1 Ks 453 Js 24649/15 (112/24), wird beantragt,

  1. das Verfahren bis zum Abschluss des Verfahrens des Generalbundesanwalts beim BGH gegen Frau Klette, Az. 2 BJs 72/93-2, auszusetzen und
  2. die dortige Ermittlungsakte nach Abschluss dieses Parallelverfahrens beizuziehen und den Unterzeichner*innen sodann Akteneinsicht zu erteilen.

Hilfsweise wird beantragt,

die Ermittlungsakte des Generalbundesanwalts beim Bundesgerichtshof gegen Daniela Klette, Aktenzeichen 2 BJs 72/93-2, bereits jetzt beizuziehen und den Unterzeichner*innen sodann Akteneinsicht zu erteilen.

sowie

das Verfahren bis zur erfolgten Beiziehung der genannten Ermittlungsakte auszusetzen.

Gleichzeitig wird beantragt,

den Haftbefehl gegen Frau Klette aufzuheben.

Begründung:

Unter dem Aktenzeichen 2 BJs 72/93-2 wird gegen die Angeklagte durch den Generalbundesanwalt ein weiteres Ermittlungsverfahren geführt. In diesem weiteren Verfahren wird Frau Klette beschuldigt, als Mitglied der RAF an insgesamt 3 der RAF zugerechneten Anschlägen beteiligt gewesen zu sein. Das Verfahren befindet sich noch im Ermittlungsstadium – eine Anklage liegt noch nicht vor.

In dem zurückgewiesenen Antrag der Verteidigung vom 25. März 2025 auf Einstellung des Verfahrens gem. § 260 Abs. III StPO wegen Vorliegens eines unabwendbaren Verfahrenshindernisses hatte die Verteidigung bereits ausführlich dargelegt, dass die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Verden im hiesigen Verfahren an zentralen Stellen von der Hypothese der früheren RAF-Mitgliedschaft der Angeklagten und der beiden gesondert verfolgten Burkhard G. und Ernst-Volker S. und den sich hieraus für die Staatsanwaltschaft ergebenden Schlussfolgerungen im Rahmen der Beweisführung bestimmt ist. Wir hatten weiter dargelegt, dass es sich dabei nicht allein um eine Problematik handelt, die in der Person und Haltung der Anklageverfasserin begründet ist, sondern dass es sich um ein grundlegendes, das gesamte hiesige Verfahren erfassendes, strukturelles Problem handelt.

Zwischen dem hiesigen Verfahren und dem parallel dazu von dem Generalbundesanwalt geführten Verfahren besteht ein so enger Zusammenhang, dass eine voneinander isolierte Beweisaufnahme nicht möglich ist. Tatsächlich ist eine derart enge Verschränkung der beiden Verfahren zu konstatieren, dass eine Durchführung des hiesigen Verfahrens ohne vorherige Überprüfung der Tatvorwürfe, die Gegenstand des weiteren Verfahrens gegen Frau Klette im Zusammenhang mit ihrer angeblichen früheren RAF-Mitgliedschaft sind, unmöglich ist und einen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung darstellen würde. Sowohl die Anklageschrift als auch der Eröffnungsbeschluss des Landgerichts Verden enthalten Unterstellungen, die nicht aus den Ermittlungen im hiesigen Verfahren herrühren, sondern bei denen es sich um vorweggenommene Behauptungen handelt, deren Richtigkeit erst noch in dem weiteren Ermittlungsverfahren des Generalbundesanwalts zu überprüfen ist. Es handelt sich dabei um die Behauptung der früheren RAF-Mitgliedschaft unserer Mandantin und den hieraus abgeleiteten Schlussfolgerungen. Betroffen sind hiervon zentrale, sowohl für den Schuldspruch als auch für die Rechtsfolge unmittelbar relevante Aspekte.

Es soll an dieser Stelle zunächst umfassend Bezug auf die Ausführungen der Unterzeichner*innen in dem Einstellungsantrag vom 25. März 2025 genommen werden.

Zentral sind dabei die Ausführungen, die sich unmittelbar auf die sich aus der Anklageschrift ergebenden RAF-Bezüge sowie auf die gerichtliche Eröffnungsentscheidung beziehen. Wir haben in diesem Einstellungsantrag dargelegt, dass sich die Beweisführung der Staatsanwaltschaft sowohl an zentraler Stelle im konkreten Anklagesatz als auch bei Ausführungen im Rahmen der „wesentlichen Ergebnisse der Ermittlungen“ auf vermeintliche Erkenntnisse zur Struktur der RAF, ihrer Handlungsweisen sowie auf Zuschreibungen hinsichtlich einer behaupteten generellen Tötungsbereitschaft bei vermeintlichen früheren Mitgliedern der RAF bezieht.

Dabei hatten wir konkret dargelegt, dass es sich nach Auffassung der Staatsanwaltschaft Verden bei der angeklagten Frau Klette und den beiden gesondert Verfolgten um die letzten verbliebenen ehemaligen Mitglieder der RAF handelt, die sich nach Auflösung der RAF im Jahre 1998 dazu entschlossen hätten, im Untergrund zu verbleiben und ihren Lebensunterhalt fortan durch die Begehung von Raubüberfällen zu sichern.

In der vom Landgericht Verden insoweit unverändert zugelassenen Anklageschrift zieht die Staatsanwaltschaft sodann aus diesem behaupteten biografischen Hintergrund der Angeklagten und der gesondert Verfolgten insbesondere folgende Schlussfolgerungen:

  • generelle Tötungsbereitschaft der Tatverdächtigen bei allen angeklagten Raubtaten

Den konkreten einzelnen Anklagepunkten sind auf S. 5 der Anklageschrift einige kurze Ausführungen vorangestellt, in denen die Staatsanwaltschaft Verden einige nach ihrer Auffassung für alle einzelnen Anklagevorwürfe gültigen allgemeinen Feststellungen trifft. Hier heißt es u.a. wie folgt:

Zu der beabsichtigten Vorgehensweise gehörte auch die Mitnähme einer nicht funktionstüchtigen aber echt aussehenden Panzerfaust, von Langwaffen oder Elektroschockern und / oder Pistolen. Die Angeschuldigte und die gesondert Verfolgten wollten hierdurch Widerstände überwinden und die Waffen gegebenenfalls gegen die jeweiligen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen einsetzen. Hierbei bezogen sie auch die Möglichkeit von Verletzungshandlungen mit in ihre Pläne ein. Um ihr Ziel – Geld zu erbeuten – zu erreichen, nahmen sie auch die Möglichkeit tödlicher Verletzungen billigend in Kauf.“

Bei unseren Ausführungen im Einstellungsantrag hatten wir beschrieben, dass dieser auch im Eröffnungsbeschluss wiedergegebene Passus, in dem den Tatverdächtigen eine besondere Skrupellosigkeit unterstellt wird, allein dadurch erklärt werden kann, dass Staatsanwaltschaft und Gericht mit einer vermeintlichen früheren RAF-Mitgliedschaft bestimmte Zuschreibungen verbinden, welche nicht aus den Erkenntnissen im hiesigen Verfahren herrühren können, sondern allein im Zusammenhang mit den vermuteten RAF-Bezügen stehen.

Wir hatten in diesem Zusammenhang weiter ausgeführt, dass die staatlich produzierten Vorstellungen, die bei der Verfolgung ehemaliger Mitglieder der RAF in den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts maßgeblich waren, die Bilder aus einer Zeit, in der sich die Bundesrepublik Deutschland und die RAF unversöhnlich gegenüberstanden und es auf beiden Seiten zu einer Vielzahl von Toten gekommen ist, bei Staatsanwaltschaft und Gericht offenkundig weiter fortleben und auch heute noch bei der Beurteilung der Angeklagten und bei der Bewertung der Taten eine maßgebliche Rolle spielen.

  • RAF-Bezüge bei der Bewertung der Beweislage in den Fällen der Raubüberfälle in Bochum-Wattenscheid (Fall 4 der Anklage) und in Löhne (Fall 5 der Anklage)

Wir hatten bei unseren Ausführungen im Einstellungsantrag weiter dargelegt, dass bei den Anklagevorwürfen zu den Raubtaten in Bochum-Wattenscheid und in der Ortschaft Löhne von der Staatsanwaltschaft in der Anklageschrift bei dem „wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen“ im Rahmen der Beweiswürdigung unmittelbar Bezüge zur vermeintlichen früheren RAF-Mitgliedschaft der Angeklagten Frau Klette und der beiden gesondert Verfolgten hergestellt worden sind und in die Bewertung der Beweislage eingeflossen sind.

In beiden Fällen versucht die Staatsanwaltschaft Verden die behauptete Anwesenheit der Frau Klette am Tatort trotz des Fehlens eindeutiger Beweismittel mit der vermuteten RAF-Mitgliedschaft und den für sie sich hieraus ergebenden Erkenntnissen zu belegen. Die Lücke bei der Beweisführung soll mit vermeintlichen Erkenntnissen zur Struktur der RAF gefüllt werden.

Wörtlich heißt es hier etwa im Fall Bochum-Wattenscheid auf S. 470 der Anklage wie folgt:

Hinzu kommt, dass es sich bei den Tatverdächtigen S., Klette und G. – so der dringende Verdacht – um die letzten der noch im Untergrund lebenden ehemaligen Mitglieder der sog. dritten Generation der terroristischen „Rote Armee Fraktion“ (,RAF“) handelte. Die Struktur dieser Gruppierung bei der Planung und Ausführung ihrer Taten war folgendermaßen: Entscheidungen zu „Aktionen“ (also welches Ziel angegriffen werden sollte und wie der Anschlag vom Grundsatz her verlaufen sollte) wurden durch die sog. Illegalen, die im Untergrund lebenden Mitglieder, gemeinsam getroffen (Grundsatz der „Kollektivität“), Über die Einzelheiten der Tatausführung entschieden jedoch die Mitglieder des (Tat“)Kommandos, die mit der Vorbereitung, Planung und Durchführung der Tat betraut waren (Bd. 2, BI. 561 f., 566 ff., 576 f., 580,585,592,595, 597 f.). Sehr unwahrscheinlich ist, dass in diesem Zusammenhang andere (im Übrigen unbeteiligte) Mitglieder der „RAF“ oder sogar Dritte (bloße Unterstützer der „RAF“) tätig wurden (Bd. 2, BI. 580 f., 583, 585 ff., 597). Diesen Grundsätzen, die möglicherweise für die Tatverdächtigen während des Bestehens der „RAF“ galten, würde jedoch es widersprechen, sollte nicht die Angeschuldigte Klette, sondern eine andere – dritte – Person in die Tatplanung und die Tatbegehung der gesondert Verfolgten S. und G. eingebunden gewesen sein.“

Eine nahezu identische Beweisführung findet sich dann auch bei den Ausführungen zu dem Raubüberfall in Löhne.

In diesem letztgenannten Fall hat die Staatsanwaltschaft Verden aus der behaupteten früheren RAF-Mitgliedschaft neben der Beimessung eines zentralen indiziellen Wertes hinsichtlich einer Tatbeteiligung der Angeklagten Frau Klette zusätzlich auch noch die These der Mitführung von Waffen bei der Tatausführung begründet.

Wörtlich heißt es hier wie folgt:

Es ist wahrscheinlich, dass zumindest einer der gesondert Verfolgten S. und G. eine Faustfeuerwaffe dabei hatte, mag sie auch für die Zeuginnen A. und B. nicht sichtbar gewesen oder von den Zeuginnen nicht wahrgenommen worden sein. Nahezu ausschließen kann man, dass die drei, die über Handfeuerwaffen verfügten, einen Raubüberfall unbewaffnet begingen. Bereits die mögliche Mitgliedschaft in der linksterroristischen „Rote Armee Fraktion“ („RAF“) begann mit der Übergabe einer Faustfeuerwaffe als Zeichen dieser Mitgliedschaft. Großkalibrige Faustfeuerwaffen führten die Mitglieder der „RAF“ ständig zugriffsbereit und geladen mit sich, wobei die Übereinkunft bestand, bei drohender Festnahme ohne Rücksicht von der Waffe Gebrauch zu machen, um eine Festnahme zu verhindern.“

Festzustellen ist, dass die von der Anklagebehörde aufgeführten und vom Landgericht in der Eröffnungsentscheidung übernommenen bzw. jedenfalls nicht beanstandeten Passagen, in denen im Rahmen der Beweisführung mit vermeintlichen Erkenntnissen zur RAF operiert wird, keinen Rückhalt in den hiesigen Akten finden und der Staatsanwaltschaft hierbei offensichtlich andere, der Verteidigung unbekannte, Erkenntnisquellen vorgelegen haben müssen.

  1. Zu erwartende Erkenntnisse aus dem Ermittlungsverfahren des Generalbundesanwalts zur Struktur der RAF in den 1990er Jahren

Hinsichtlich der behaupteten Struktur der RAF – dem „Grundsatz der Kollektivität“ und dem, was die Staatsanwaltschaft Verden damit verbindet – finden sich in der hiesigen Anklageschrift bzw. in der Ermittlungsakte zum Fall Bochum Hinweise auf den Ursprung dieser Behauptung. Dies wurde auch in dem Einstellungsantrag bereits dargelegt.

Aus der Ermittlungsakte zum Fall Bochum ergibt sich, dass sich der früher für dieses Verfahren zuständige Staatsanwalt Beneke am 24.11.2020 hilfesuchend an das BKA gewandt hat und sich nach dortigen Erkenntnissen zur Art und Weise der Tatplanung und Tatbegehung innerhalb der RAF erkundigt hat. Daraufhin wurden dem Staatsanwalt Beneke von BKA-Beamten Dateien mit Auszügen aus Urteilen des Oberlandesgerichts Frankfurt gegen die früheren RAF-Mitglieder H. vom 28.04.1994 und H. vom 05.11.1997 übersandt, sowie eine Datei mit dem vom Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs gegen den im hiesigen Verfahren gesondert Verfolgten Herrn S. erlassenen Haftbefehl vom 09.05.2018.

In der Bochumer Ermittlungsakte sind Auszüge dieser Entscheidungen enthalten. Aus dem Urteil gegen H. ergibt sich die Herkunft der damaligen Erkenntnisse des OLG Frankfurt. Im Wesentlichen beziehen sich diese Erkenntnisse zur kollektiven Entscheidungsstruktur innerhalb der RAF auf eine Aussage des früheren RAF-Mitglieds P., der bis zu seiner Festnahme im Jahre 1984 Mitglied der RAF gewesen sein soll.

Nach Abschluss des weiteren Verfahrens gegen Frau Klette bei dem Generalbundesanwalt wird feststehen, dass diese behaupteten Erkenntnisse zur Struktur der RAF jedenfalls für den Zeitraum, in dem sich die Angeklagte Frau Klette der RAF angeschlossen haben soll, nicht belastbar sind.
Die Staatsanwaltschaft Verden geht davon aus, dass die Angeklagte Frau Klette spätestens im Jahre 1990 in den Untergrund gegangen und sich sodann der RAF angeschlossen habe. Insofern betreffen die Urteilsgründe der von der Staatsanwaltschaft Verden in Bezug genommenen Entscheidungen des OLG Frankfurt Zeiträume, zu denen sich Frau Klette auch nach staatsanwaltschaftlicher Auffassung der RAF noch nicht angeschlossen hatte.

Für den Zeitraum der 1990er Jahre aber wird sich aus den Ermittlungen des Generalbundesanwalts letztlich ergeben, dass diesbezüglich seitens der Ermittlungsbehörden gerade keine oder jedenfalls nur sehr rudimentäre Kenntnisse hinsichtlich der Struktur der RAF vorliegen.

So wird sich bereits in der Strukturakte der Ermittlungsakte der Bundesanwaltschaft gegen Frau Klette u.a. die Revisionsentscheidung des BGH im Strafverfahren gegen H. finden.
In dieser Entscheidung vom 13. Februar 1998 heißt es u.a. wie folgt:

Der Senat kann nicht mit der erforderlichen Sicherheit annehmen, dass das Oberlandesgericht Frankfurt auch ohne Berücksichtigung der `need-to-know-Regel´ von der Beteiligung der Angeklagten an dem Kommando und damit und damit als Mittäterin überzeugt gewesen wäre. (…) Zudem hat von einer solchen Handhabung bei der RAF – von den RAF-Mitgliedern M. und M. inhaltlich bestätigt – das bereits im Juli 1984 festgenommene RAF-Mitglied P. in dem genannten Urteil gegen H. berichtet. Das besagt indes nichts zu der Handhabung eines Kommandounternehmens im Jahre 1993, das von Mitgliedern einer personell und strukturell geänderten RAF mit seit 1992 grundlegend veränderter Zielsetzung durchgeführt wurde. (…).“

Aus den Ermittlungen des Generalbundesanwalts wird sich die Richtigkeit der Feststellungen ergeben, welche der BGH bereits vor 27 Jahren getroffen hat. Dass nämlich die Art und Weise, mit der die bundesdeutsche Justiz bis dahin Beweisregeln für eine mittäterschaftliche Beteiligung in den sog. RAF-Verfahren aufgestellt hat, für die Zeit ab mindestens 1992 keine Gültigkeit mehr besitzen. Das es seitdem eine grundlegend veränderte Struktur und Zielsetzung der RAF gegeben habe.

Die Ermittlungen des GBA, so wird sich erweisen, sind dabei zunächst weiterhin von dem Versuch geprägt gewesen, Erkenntnisse zur früheren Struktur der RAF und die damit zusammenhängende „need-to-know-Regel“ auch auf die von ihnen als „dritte RAF-Generation“ bezeichnete Gruppierung anzuwenden. Dabei wird der Wille des GBA deutlich werden, die früher angewandten Beweisregeln, die zu einer für die Ermittlungsbehörden und die Gerichte starken Vereinfachung bei der Zurechnung von Taten auf einzelne Gruppenmitglieder geführt haben, fortzusetzen. Gleichzeitig wird in diesem Zusammenhang erkennbar werden, dass die Ermittlungsbehörden schließlich jedoch nicht umhinkamen, sich jedenfalls für den Zeitraum der letzten 8 Jahre des Bestehens der RAF den Feststellungen des BGH in der H.-Entscheidung anzuschließen.
Insgesamt wird sich aus dem parallel geführten Verfahren letztlich ergeben, dass die seitens der Ermittlungsbehörden hinsichtlich der als „dritte Generation der RAF“ bezeichneten Strukturen nach 1984 weitgehend unbekannt und „phantomhaft“ geblieben sind. Dabei werden die dortigen Ermittlungen bestätigen, was sich bereits aus den entsprechenden Forschungsergebnissen des Politikwissenschaftlers Alexander Straßner, der sicherlich vollständig unverdächtig ist, linkem Gedankengut anzuhängen, ergibt. Straßners Dissertation über die sog. „dritte Generation der RAF“ gilt in dem herrschenden politikwissenschaftlichen Diskurs als zentral. Mit ihr ist nach bürgerlicher Geschichtsschreibung eine Forschungslücke geschlossen worden, die durch die extrem spärlichen öffentlich verfügbaren Informationen über diese ab Mitte der 1980er Jahre aktive Kommandoebene der RAF entstanden war. In Übereinstimmung mit den Feststellungen Straßners wird sich aus dem parallelen „RAF-Verfahren“ ergeben, dass die Datenlage zu den letzten Jahren des Bestehens der RAF äußerst prekär und der kriminologische Erkenntnisstand sehr gering ist.

Danach liegen bei BKA und GBA weder konkrete Erkenntnisse darüber vor, wie in den 1990er-Jahren die personelle Zusammensetzung der RAF war, noch wie die innere Struktur der RAF zu dieser Zeit ausgesehen hat. In den Ermittlungsergebnissen bestätigt sich das, was Alexander Straßner in seinem Aufsatz von 2006 mit dem Titel „Die dritte Generation der RAF“ wie folgt beschrieben hat:

Über die Anzahl der Personen in der Kommandoebene der dritten Generation ist wenig bekannt. Die Angaben der Behörden schwankten zwischen 15 und 30 Personen. Vielen der mutmaßlichen Aktivisten, die in den 1980er und 1990er Jahren auf den Fahndungslisten standen und der Kommandoebene zugerechnet wurden, konnte eine tatsächliche Mitgliedschaft in der RAF nicht nachgewiesen werden (…). Die behördlichen „Erkenntnisse“ über die dritte RAF-Generation haben mitunter nicht einmal den Charakter von Verdachtsmomenten.“

Als Ergebnis wird sich aus dem Verfahren des Generalbundesanwalts somit ergeben, dass die Behauptungen in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Verden zur angeblichen Struktur der RAF und der Art und Weise, wie dort Entscheidungen der „Kommandoebene“ der RAF getroffen worden sind, jedenfalls hinsichtlich der sogenannten „dritten Generation“ haltlos sind.

  1. Zu erwartende Erkenntnisse aus dem Verfahren des Generalbundesanwalts zur Frage der Gewaltbereitschaft der RAF in den 1990er Jahren

Wie oben dargestellt, leitet die Staatsanwaltschaft Verden die behauptete generelle Tötungsbereitschaft der Angeklagten und der beiden gesondert verfolgten Burkhard G. und Ernst-Volker S. aus deren behaupteter früheren RAF-Mitgliedschaft ab. Es wird suggeriert, dass bei früheren Mitgliedern der RAF immer mit dem gezielten Einsatz von Schusswaffen zu rechnen sei.

Die Feststellungen aus dem Verfahrens 2 BJs 72/93-2 werden sich zentral auf Erkenntnisse der Sicherheitsbehörden Entwicklung der RAF in den 1990er Jahren beziehen, da dort – wie auch im hiesigen Verfahren, die Vermutung bestanden hat, dass die angeklagte Frau Klette von ca. 1990 bis 1998 der RAF angehört haben soll. Dabei werden in dem Verfahren des Generalbundesanwalts zwei Ereignisse als Zäsur in der Geschichte der RAF bewertet werden.

Das erste Ereignis datiert auf einem veröffentlichten Schreiben der RAF vom 10. April 1992, welches die Überschrift

An alle, die auf der Suche nach Wegen sind, wie menschenwürdiges Leben hier und weltweit an ganz konkreten Fragen organisiert und durchgesetzt werden kann.“

Dieses Dokument ist in der Öffentlichkeit als Deeskalationserklärung begriffen worden, mit dem die RAF verkündet hat, keine bewaffneten Angriffe auf staatliche und wirtschaftliche Funktionsträger mehr durchführen zu wollen.

Wörtlich heißt es in dieser Erklärung:

Wir haben uns entschieden, dass wir von uns aus die Eskalation zurücknehmen. Das heißt, wir werden Angriffe auf führende Repräsentanten aus Wirtschaft und Staat für den jetzt notwendigen Prozess einstellen. (…) Wir haben von uns aus jetzt mit der Rücknahme der Eskalation aus der Auseinandersetzung einen Schritt gemacht, um diesen politischen Raum aufzumachen.“

In dem parallel geführten Verfahren wird festgestellt werden, dass diese Erklärung sich im Rahmen der Ermittlungen nicht nur als authentisch erwiesen hat, sondern in den folgenden Jahren bis zur Auflösung der RAF auch umgesetzt worden. Es habe seither keine der RAF zugerechneten Anschläge mehr gegeben, bei denen Menschen angegriffen worden sind. Die Ära der bewaffneten Angriffe der RAF sei mit dieser Erklärung definitiv zu Ende gegangen.

Weiter wird in dem Verfahren des Generalbundesanwalts festgestellt werden, dass es bis zur Selbstauflösung der RAF nur noch einen Anschlag auf das sich damals im Bau befindliche Abschiebegefängnis im hessischen Weiterstadt gegeben habe, bei dem auch die Ermittlungsbehörden letztlich feststellen mussten, dass die Täter Vorsorge getroffen hatten, dass keine Menschen zu Schaden kommen werden.

In der Auflösungserklärung aus dem Jahre 1998 zieht die RAF Bilanz ihrer 27-jährigen Geschichte und stellt unmissverständlich fest:

Vor fast 28 Jahren, am 14. Mai 1970, entstand in einer Befreiungsaktion die RAF. Heute beenden wir dieses Projekt. Die Stadtguerilla in Form der RAF ist nun Geschichte. Wir, das sind alle, die bis zuletzt in der RAF organisiert gewesen sind. Wir tragen diesen Schritt gemeinsam. Ab jetzt sind wir wie alle anderen aus diesem Zusammenhang ehemalige Militante der RAF.“

Auch hier werden die Feststellungen aus dem Parallelverfahren ergeben, dass die Auflösungserklärung authentisch ist und es seitdem auch keine Aktionen gegeben hat, die der RAF zugerechnet worden sind.

Die Aussetzung des hiesigen Verfahrens bis nach Abschluss des Ermittlungsverfahrens mit dem Aktenzeichen 2 BJs 72/93-2 wird somit zur Folge haben, dass sich die RAF-Bezüge in der Anklageschrift, die in der Eröffnungsentscheidung des Landgerichts nicht in Zweifel gezogen worden sind, als haltlos erweisen und nicht weiter aufrechterhalten werden können. Dies betrifft sowohl die in der Anklageschrift enthaltenen Behauptungen hinsichtlich der Struktur der RAF, aus denen von der Staatsanwaltschaft in verschiedenen Fällen eine indizielle Bewertung hinsichtlich einer Tatbeteiligung der Frau Klette gezogen worden ist, als auch die Behauptung, dass die Angeklagte und die beiden gesondert Verfolgten als ehemalige Mitglieder der RAF immer Waffen bei sich geführt haben werden und auch jederzeit bereit gewesen seien, diese mit tödlichen Folgen gegen Menschen einzusetzen.

Diese Konstruktion aus Anklage und Eröffnungsbeschluss zeichnet ein Bild einer bewaffneten Guerilla, welches historisch nicht haltbar ist und bei der Entwicklung der RAF vollständig die Geschehnisse der 1990er Jahre ausblendet. Es wird in hiesiger Anklageschrift behauptet, dass zu Beginn der vorgeworfenen Serie von Raubtaten im Jahre 1999 zwischen den Tätern eine Übereinkunft hinsichtlich der Verwendung von Schusswaffen bestanden habe. Zu einem Zeitpunkt also, zu dem die RAF bereits aufgelöst war und schon 7 Jahre vorher erklärt hat, von bewaffneten Angriffen auf Menschen Abstand nehmen zu wollen. Und darüber hinaus in völliger Verkennung der Tatsache, dass auch vor 1992 die Aktionen der RAF nicht davon gezeichnet waren, unter Einsatz von Schusswaffen gegen Menschen Geld zu erbeuten.

Aufgrund der von Staatsanwaltschaft und Gericht vorgenommenen unmittelbaren RAF-Bezüge ist das hiesige Verfahren bis Überprüfung der insoweit aufgestellten belastenden Beweiskonstruktionen auszusetzen und zunächst der Ausgang des Parallelverfahrens abzuwarten.

Bereits hier eine inzidente Beweisaufnahme über die aufgeführten Schlussfolgerungen, die aus der vermuteten früheren RAF-Mitgliedschaft unserer Mandantin gezogen werden, durchzuführen, würde bedeuten, dass eine vorweggenommene Beweisführung stattfinden würde, die dann in dem Parallelverfahren nochmals erfolgen müsste. Weder ist insoweit eine Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft Verden oder des Landgerichts Verden gegeben, noch wäre eine derartige Vorgehensweise mit dem Beschleunigungsgrundsatz vereinbar.

Sollte diesem Aussetzungsantrag nicht gefolgt werden, so ist jedenfalls aber dem Hilfsbeweisantrag, auf Beiziehung der Akte 2 BJs 72/93-2 und einer bis zur Beiziehung zu erfolgenden Aussetzung des Verfahrens stattzugeben.

Aus den hiesigen Ausführungen im Zusammenhang mit dem Hauptantrag ergibt sich jedenfalls die Notwendigkeit, dass eine Überprüfung der aufgestellten Beweisbehauptungen, die aus der vermuteten früheren RAF-Mitgliedschaft unserer Mandantin hergeleitet werden, vorgenommen werden kann. Da sowohl die Frage der angeblichen früheren RAF-Mitgliedschaft von Frau Klette als auch die Frage der damaligen Organisationsstruktur und der Art und Weise der Durchführungen von der der RAF zugerechneten Anschlägen zentrales Ermittlungsthema in dem anderweitigen Verfahren ist und sich hierzu in den hiesigen Verfahrensakten keine entsprechenden Beweisergebnisse finden, kann eine Überprüfung dieser Fragen und eine entsprechende Beweisaufnahme nur bei Kenntnis der Ermittlungsakten aus dem Verfahren des Generalbundesanwalts stattfinden.

Die sich aus der beantragten Aussetzung des Verfahrens ergebende erhebliche Verfahrensverzögerung darf nicht zu Lasten unserer Mandantin ausfallen. Insofern ist auch der Haftbefehl gegen Frau Klette aufzuheben.

Ulrich von Klinggräff, Undine Weyers, Lukas Theune